175 Jahre Diakonie
Theologin Prof. Dr. Ute Gause von der Ruhr-Universität Bochum spricht während der Tagung über "Frauen in der Diakonie zwischen Selbstverleugnung und Selbstbestimmung". Prof. Dr. Norbert Friedrich von der Fliedner-Kulturstiftung referiert über "Die Zeit der Patriarchen". Im Interview geben beide einen Ausblick auf ihre Vorträge.
Frauen in der Diakonie: Ist das nun eine Geschichte der Freiheit oder der Selbstverleugnung?
Prof. Dr. Ute Gause Die Diakonissen im 19. Jahrhundert sprachen von der Freiheit zur Selbstverleugnung. Der Begriff war für sie nicht negativ behaftet. Sie hatten entschieden, nicht egoistisch zu leben, sondern auf andere zu schauen. Für sie bot die Diakonissenanstalt zudem einen großen Schutz. Auch ältere Frauen, die keine Chance mehr auf dem Heiratsmarkt hatten, fanden Ansehen, Sicherheit und Versorgung und Betreuung bei Krankheit.
Das System hätte nicht so lange funktioniert, wenn es dabei nur um Ausbeutung gegangen wäre. Diakonissen arbeiteten als Managerinnen, als Sozialarbeiterinnen, sie übernahmen Lehrtätigkeiten und gingen auf Reisen in die ganze Welt. Sie waren unfassbar flexibel und hatten viele verschiedene Einsatzmöglichkeiten. Das war anderen alleinstehenden Frauen im 19. Jahrhundert gar nicht möglich.
Und wieviel Individualität wurde ihnen dabei zugestanden?
Gause Diakonissen konnten ihre Fähigkeiten einsetzen und in vielen Bereichen auch frei arbeiten. Allerdings wurde von ihnen auch eine starke Unterordnung verlangt, deutlicher als von Männern. Viele Frauen sind gegangen, denen dieses System zu starr war. Und wenn wir auf das Thema Kleidung blicken: Hier war Individualität strikt unterbunden. Saumlänge und Absatzhöhe waren vorgeschrieben. Schmuck oder Tücher streng verboten. Individualität war nicht erwünscht. Im Arbeitsalltag stellte sich das aber anders dar; hier war Eigeninitiative gefragt.
Diakonissen hatten viele verschiedene Einsatzmöglichkeiten, etwa im Labor.
Wann veränderten sich die Strukturen für Diakonissen?
Gause Als sich die Berufs- und Bildungsmöglichkeiten für Frauen deutlich verbesserten, gingen die Eintrittszahlen der Diakonissen zurück. Ab den 1960er Jahren wurden schließlich immer weniger Neueintritte gezählt. Frauen hatten jetzt so viele andere Möglichkeiten. Und auch die Kategorie "Selbstverleugnung" funktionierte nicht mehr. Das Ende ihres Berufes war für die Diakonissen der damaligen Zeit ein schmerzhafter Prozess. Ihre Gemeinschaften wurden kleiner, sie mussten ihr Mutterhaus aufgeben. Das war für viele der Frauen sehr bitter.
Wie hat diese Entwicklung die Gesellschaft beeinflusst?
Gause Das Modell der Ganzheitlichkeit ging verloren. Diakonissen sahen ihre Arbeit als Dienst an den Menschen, nicht als Job. Nicht zuletzt verstanden sie sich als Botschafterinnen des Christentums. Die Atmosphäre auf den Krankenstationen veränderte sich, in den Kindergärten verschwand die selbstverständliche christliche Erziehung, die die Diakonissen mitgebracht hatten. Die Frauen behielten aber ihre hohe Wertschätzung und waren auch bei säkularen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in den Einrichtungen weiterhin angesehen.
Die Theologin Prof. Dr. Ute Gause von der Ruhr-Universität Bochum berichtet, dass Diakonissen im 19. Jahrhundert viele verschiedene Einsatzmöglichkeiten hatten: "Das war anderen alleinstehenden Frauen gar nicht möglich."
Welche Einsicht ist Ihnen für Ihren Vortrag bei der Fachtagung besonders wichtig?
Gause Dass es einen Schatz diakonischer Arbeit gibt, den die Diakonissen verkörpern, der noch nicht gehoben ist. Es gibt nach wie vor großes Desinteresse an wissenschaftlicher Forschung über Frauen in der Diakonie. Ich befinde mich mit meiner Arbeit völlig am Rand. Das hat mit konservativer Beharrungskraft in der Wissenschaft zu tun. Bis heute hat die Diakonie nicht verstanden, wieviel sie den Diakonissen zu verdanken hat.
Professor Norbert Friedrich von der Fliedner-Kulturstiftung berichtet, dass Männer wie Theodor Fliedner und Johann Hinrich Wichern im 19. Jahrhundert die Kirche verändern wollten.
Männer haben der Diakonie im 19. Jahrhundert einen Rahmen gegeben. Darauf liegt Ihr Fokus, Herr Professor Friedrich. Richtig?
Prof. Dr. Norbert Friedrich Ich komme selbst auch aus der Erforschung der Mutterhaus-Diakonie. Mein Fokus liegt sehr stark auf den Themen Organisation und Struktur, auch allgemeiner. Das ist es, was im 19. Jahrhundert entstanden ist – über die Anstalten wie in Kaiserswerth und Bethel und den Zentralausschuss hinaus. Es war der Versuch, auf gesellschaftliche und soziale Strukturen zu reagieren und gleichzeitig das Thema Kirche in den Fokus zu stellen. Männer wie Theodor Fliedner und Johann Hinrich Wichern wollten damals die Kirche verändern.
Theodor Fliedner hat stark auf hierarchisch-patriarchalische Strukturen gebaut.
Sie sprechen in diesem Zusammenhang von Autorität und Charisma. Nehmen Sie uns mit in dieses Spannungsfeld.
Friedrich Beide Männer hatten zweifellos Charisma. Sie konnten andere Menschen für ihre Sache gewinnen. Theodor Fliedner hat dabei ganz stark auf hierarchisch-patriarchalische Strukturen gebaut. Das hatte auch mit seiner Persönlichkeit zu tun.
Wichern hat wohl stärker genossenschaftlich gedacht bei seiner Gemeinschaft. Beide Männer haben über organisatorische Fähigkeiten verfügt, die ihnen Autorität verschafften. Und dabei war klar: Der Mann hat das hauptsächliche Sagen. Andere nach ihnen haben sich dann einer geliehenen Autorität bedient: Sie bezogen sich auf Fliedner oder Wichern. Es gab auch andere Ansätze, die stärker als Frauengenossenschaften funktionieren sollten. Sie haben sich nicht durchgesetzt.
Brauchte die Diakonie also damals autoritäre Strukturen, um zu bestehen?
Friedrich Eindeutig: ja. Sonst wäre sie nie so groß geworden. Patriarchen haben den Laden groß gemacht. Die Diakonie war im 19. Jahrhundert auch ein Spiegelbild der Gesellschaft. In Aufsichtsräten und Vereinsvorständen saßen natürlich die Vertreter des konservativen protestantischen Bürgertums. Ein restauratives Milieu. Ökonomisch war man auf Wachstum und feste Strukturen geprägt. Man wusste: Überleben sichert man immer durch feste Organisationen, Hierarchien und gemeinsame Feindbilder.
Wann hat die Diakonie diese Strukturen überwunden?
Friedrich Auf die Frage, ob wir die Zeit der Patriarchen überwunden haben, kann ich keine klare Antwort geben. Natürlich hat sich die Diakonie verändert. Die Milieus funktionieren nicht mehr. Es gibt klare Autonomievorstellungen. Aber diakonische Führungsstrukturen sind noch immer von einem "modernisierten Patriarchat" geprägt, welches sich nur langsam verändert. Genauso wie in anderen Systemen. Viele haben sich bemüht, sich zu transformieren, viele Traditionen wurden beendet, andere nicht. Die Diakonie hat alle gesellschaftlichen Umbrüche überlebt, weil sie Angebote hat, die die Menschen brauchen, dabei hat sie sich mit Veränderungen immer schwer getan.
Johann Hinrich Wichern hatte Autorität und Charisma. Er konnte andere Menschen für seine Sache gewinnen.
Welche Einsicht ist Ihnen für Ihren Vortrag bei der Fachtagung besonders wichtig?
Friedrich Im besten Fall bleiben zwei Erkenntnisse. Erstens: Ohne diese Patriarchen würden wir heute nicht von Diakonie oder Innerer Mission sprechen. Und zweitens: Bitte keine Glorifizierung. Fliedner und Wichern waren keine Engel, sondern hochproblematische Figuren. Wir können sie nicht zu modernen Theologen oder Managern machen. In beiden finden sich auch alle problematischen Entwicklungen.
Theresa Demski führte die Gespräche. Fotos: Fliedner Kulturstiftung, Ruhr-Uni Bochum/Marquardt, Diakonie RWL, Georg Carl Hof/Das Rauhe Haus