Vorsitzwechsel Freie Wohlfahrt
Die Freie Wohlfahrtspflege hat einen sperrigen Titel: "Arbeitsgemeinschaft der Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege NRW". Ist die Landesarbeitsgemeinschaft (LAG), wie sie von den Spitzenverbänden intern genannt wird, genauso komplex, wie es der Name vermuten lässt?
Ja, die Strukturen der Freien Wohlfahrtspflege in NRW sind kompliziert. Der Name passt also. Auch, weil die Themen, die wir anpacken, oft komplex sind. So komplex, dass es ein eigenes Handbuch gibt, in dem Aufbau und Arbeitsweise festgehalten sind. Es gibt viele Ausschüsse und dann Fachausschüsse, die an den wesentlichen sozialpolitischen Landesthemen arbeiten. Hier setzen sich viele Fachleute aus den sechs Verbandsgruppen konstruktiv auseinander. Ziel ist es, das Gemeinsame nach vorne zu bringen. Denn im Zusammenhalt der 16 Spitzenverbände liegt eine politische Stärke der Freien Wohlfahrt.
Was macht die LAG denn politisch so stark?
Die Qualität und die Quantität. Der überwiegende Teil der sozialen und pflegerischen Arbeit in unserem Bundesland wird von Diensten und Einrichtungen geleistet, die sich der AWO, der Caritas, dem Roten Kreuz, der Diakonie, dem Paritätischen Wohlfahrtsverband und den Jüdischen Gemeinden angeschlossen haben. Das heißt wir vertreten in vielen sozialpolitischen Bereichen die Mehrheit der Anbieter.
Ein gutes Beispiel dafür ist die von Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann geforderte Ausbildungsplatzgarantie. In den Verhandlungen haben wir Gewicht, da wir als LAG die Mehrheit der Plätze stellen.
Das Kinderbildungsgesetz (KiBiz) ist Thema in den Kindergärten. Struktur und Finanzierung werden durch das Gesetz neu gestaltet.
Ist es manchmal schwierig, bei 16 Spitzenverbänden einen Konsens zu finden?
Wie kompliziert die Interessenlage bei der LAG ist und in welchem Spannungsverhältnis sie manchmal zu den Wünschen der eigenen Mitglieder steht, sieht man zurzeit bei den Vertragsverhandlungen mit den gesetzlichen Krankenversicherungen, den SGB-V-Verhandlungen. Da ringen wir gerade mit den Spitzenverbänden um einen Kompromiss.
Dabei darf ich als Vorsitzender der Freien Wohlfahrt nicht die eigenen Mitglieder vergessen. In erster Linie bin ich theologischer Vorstand der Diakonie Rheinland-Westfalen-Lippe. Mit einer repräsentativen Befragung zu den aktuellen Verhandlungen haben wir die Diakonie-RWL-Mitglieder mit ins Boot geholt. Die Ergebnisse zeigten Zweifel und die Frage: Hilft es, auf die Stärke der Gemeinschaft der Freien Wohlfahrt zu vertrauen oder ist es besser, als Diakonie alleine in die Verhandlungen zu gehen? Der wirtschaftliche Druck hat bei unseren Diakonie-RWL-Mitgliedern deutlich zugenommen. Das beeinflusst natürlich auch die Arbeit in der LAG.
Und hinzukommen noch die Landeskirchen. Als Diakonie sind wir ein kirchliches Werk und agieren im Schulterschluss mit den Landeskirchen. Die Reform des Kinderbildungsgesetzes, abgekürzt KiBiz, stand jüngst auf der Tagesordnung. Bei den Kindertagesstätten müssen wir natürlich auch die Kirchen miteinbeziehen. Das macht die Verhandlungen im Gefüge der Freien Wohlfahrtspflege und mit der Landespolitik noch einmal komplexer.
Im Bereich Pflege gibt es viel Bewegung: Seit Beginn des Jahres ist die neue generalistische Pflegeausbildung gestartet.
Wie steht es um das Verhältnis von Landespolitik und Freier Wohlfahrtspflege?
Die neue Legislaturperiode mit der neuen Landesregierung begann gleich mit einer großen Herausforderung für die Freie Wohlfahrtspflege: Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann hatte die Zuwendungen für die LAG im Haushalt deutlich gekürzt. Nur durch intensive Verhandlungen mit den Politikern der Fraktionen ist es gelungen, das zu verhindern. Als Freie Wohlfahrtspflege konnten und können wir zeigen: Wir sind Akteure von Innovation und Weiterentwicklung.
Teilhabe ist ein großes Thema in der Sozialpolitik. Aus Ihrer Sicht: Kann man sagen, dass sich die Lebensverhältnisse von Menschen, die auf Assistenz und Hilfe angewiesen sind, verbessern?
In der Behindertenhilfe und in der Pflege hat sich viel verbessert in den letzten Jahren. Gewiss gibt es immer noch Luft nach oben. Es gibt ungelöste Aufgaben, aber die Leistungen haben sich im Wesentlichen nicht verschlechtert.
Die bisherige Teilkaskoversicherung für die Pflege muss konsequent weiterentwickelt werden, aber die Pflegeausbildung ist zum Beispiel auf einem guten Weg. Die Rahmenbedingungen für die Menschen, so könnte man sagen, haben sich verändert. Allerdings bereitet mir die Verfestigung prekärer Lebenslagen große Sorgen. Das gilt für alleinerziehende Frauen, für Wohnungslose oder auch für das Feld der Migration.
Mit Menschen ins Gespräch kommen: Beim Kirchentag in Dortmund haben die Mitglieder der "Selbstvertretung wohnungsloser Menschen" auf die Wohnungsnot aufmerksam gemacht.
Was hat Ihnen an Ihrer Arbeit als Vorsitzender besonders gefallen?
Die Begegnungen mit einzelnen Menschen haben mir immer wieder Freude gemacht. Besonders imponiert haben mir die Vertreter der Selbsthilfegruppen während der Anhörungen im Landtag. Auch viele Begegnungen mit Politikern waren erfreulich. Wenn etwa in den Ausschüssen die parteipolitische Prägung zwar zu spüren war, man aber doch gemeinsam um gute Lösungen für die Menschen gerungen hat. Da wurde Demokratie in ihrem Aushandeln für den kleinen Fortschritt erlebbar. Bemerkenswert waren auch die Politiker, die deutlich gesagt haben, was geht und was eben nicht geht. Die klar gemacht haben: "Das kriegen wir hin" – oder eben auch: "Das kriegen wir nicht hin." Und die dann nach praktischen Lösungen gesucht haben.
Die Landespolitiker, das muss man ganz klar sehen, sitzen nicht nur im Landtag. Vor allem sind sie im Wahlkreis. Da machen sie ihre Erfahrungen. Da wird zum Beispiel die Mutter eines führenden Politikers in einem diakonischen Altenheim gepflegt – hoffentlich gut gepflegt. So hat man gleich Anknüpfungspunkte für konstruktive Gespräche.
Christian Heine-Göttelmann (links) mit Freiwilligen der Diakonie RWL und Jens Kamieth von der CDU (rechts) während des Parlamentarischen Frühstücks im Landtag.
Ihre Zeit als Vorsitzender der Freien Wohlfahrt ist jetzt vorbei. Wie geht es mit der Diakonie 2020 und 2021 weiter?
Wir wollen die gewonnene Zeit nutzen, um unsere Mitglieder noch stärker miteinzubinden. In einem Kommunikationsprojekt haben wir die Wünsche und Ansprüche unserer Mitglieder ermittelt, wir haben gefragt: Wo können wir uns verbessern? Diese Ergebnisse wollen wir jetzt umsetzen und unser Markenprofil stärken.
Wir brauchen eine neue Selbstvergewisserung. Ein gutes Beispiel dafür war für mich das Parlamentarische Frühstück im NRW-Landtag. Das haben wir bewusst mit den Kirchen gemeinsam ausgerichtet. Wir haben am Beispiel der Freiwilligendienste den Mehrwert unserer diakonischen Arbeit zeigen können. Wir sind ein "Verband mit besonderer Prägung" und einem gesellschaftlichen Mehrwert.
Wichtig ist mir auch, die Digitalisierungsprozesse weiter voranzubringen. Die Digitalisierung ist eine großartige Chance. Wir können unsere Mitglieder viel stärker miteinbeziehen. So wird Teilhabe ermöglicht.
Auch die diakonische Arbeit vor Ort wollen wir deutlich stärken. Die Quartiersarbeit wird ausgebaut, dabei ist auch hier die Vernetzung die zentrale Strategie. Mit dem Evangelischen Büro wollen wir noch enger zusammenarbeiten. Dabei geht es auch um die Gewinnung von Fachkräften und Führungskräften. Die Lobbyarbeit wollen wir verstärken, auch dies im Zusammengehen mit den Mitgliedern.
Das Gespräch führte Reinhard van Spankeren. Redaktion: Ann-Kristin Herbst
Diakonie RWL
Freie Wohlfahrtspflege NRW
Die Freie Wohlfahrtspflege NRW will gerechte Lebensverhältnisse für alle Menschen in unserem Land. Sie erhebt deshalb ihre Stimme für all diejenigen, die Unterstützung benötigen. Sie fördert gesellschaftliches Engagement und bietet eine Vielzahl von sozialen Dienstleistungen an, um Menschen schnell und professionell zu helfen. In ihren Verbänden sind über 580.000 Mitarbeitende und mehr als 570.000 Ehrenamtliche tätig.
In der Freien Wohlfahrtspflege NRW haben sich die Arbeiterwohlfahrt, Caritas, Der Paritätische, das Deutsche Rote Kreuz, die Diakonischen Werke und Jüdischen Gemeinden mit ihren 16 Spitzenverbänden zu einer Arbeitsgemeinschaft zusammengeschlossen. Alle zwei Jahre wird ein neuer Vorsitz gewählt. Mit dem Beginn des Jahres 2020 ist Dr. Frank Johannes Hensel, Direktor des Diözesan-Caritasverbandes für das Erzbistum Köln, neuer Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege Nordrhein-Westfalen.