6. Januar 2025

Neujahrsinterview

Gemeinsam stark: Für die Zukunft des Sozialstaats

Im Interview blicken Diakonie RWL-Vorstände Kirsten Schwenke und Christian Heine-Göttelmann auf ein bewegtes Jahr 2024 zurück und geben einen Ausblick auf 2025. Sie sprechen über die beeindruckende Solidarität bei den Protesten gegen die geplanten Sozialkürzungen in NRW und die wichtige Aufarbeitung von Missbrauchsfällen in Kirche und Diakonie.

  • 32.000 Demonstrierende bei der Demo der Freien Wohlfahrtspflege in Düsseldorf.
  • Kirsten Schwenke hält die Abschlussrede bei der Kundgebung.
  • Die Vorstände der Diakonie RWL, Christian Heine-Göttelmann und Kirsten Schwenke, mit Mitarbeitenden kurz vor der Demo.

Frau Schwenke, Herr Heine-Göttelmann – was war für Sie persönlich das bewegendste Erlebnis im vergangenen Jahr?

Kirsten Schwenke: Für mich persönlich war der bewegendste Moment, als am 13. November mehr als 32.000 Menschen in Düsseldorf gegen die geplanten Sozialkürzungen der Landesregierung protestiert haben. Denn gerade jetzt dürfen wir nicht am sozialen Fundament unserer Gesellschaft sparen, sondern müssen dafür sorgen, dass jeder Mensch die Möglichkeit hat, aktiv am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Dass wir gemeinsam so ein starkes Zeichen gegen die geplanten Kürzungen und für einen starken Sozialstaat gesetzt haben, gibt mir neue Zuversicht für dieses Jahr.

Gemeinsam bei der Demonstration für ein soziales Nordrhein-Westfalen: Christian Heine-Göttelmann (links) und Kirsten Schwenke.

Gemeinsam bei der Demonstration für ein soziales Nordrhein-Westfalen: Christian Heine-Göttelmann (links) und Kirsten Schwenke.

Christian Heine-Göttelmann: Mich hat die Großdemo auch tief beeindruckt. Sie hat eindrucksvoll verdeutlicht, wie sehr Sozialkürzungen die Menschen in Nordrhein-Westfalen betreffen und bewegen. Viele haben Sorge, dass Unterstützungsangebote zurückgefahren werden, die sie in ihrem Alltag dringend brauchen. Gleichzeitig hat mir der Protest aber auch Mut gemacht, denn er hat gezeigt, dass die Freie Wohlfahrtspflege in der Lage ist, Menschen zu mobilisieren und auf die drängendsten Herausforderungen in unserer Gesellschaft hinzuweisen. Der Erfolg des Protests – nämlich, dass gut die Hälfte der geplanten Kürzungen zurückgenommen werden – beweist, dass wir gemeinsam viel bewirken können. Dennoch müssen wir in diesem Jahr im Sozialbereich mit rund 40 Millionen Euro weniger auszukommen als noch 2024. Das ist, vor allem für unsere Trägereinrichtungen, sehr herausfordernd und bedeutet auch, dass Arbeitsplätze abgebaut werden. Es gibt also auch in diesem Jahr viel für uns zu tun.

Vor fast einem Jahr, am 25. Januar 2024, wurde die im Auftrag der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und der Diakonie erarbeitete ForuM-Studie vorgestellt, die sexualisierte Gewalt und andere Missbrauchsformen in der Evangelischen Kirche und Diakonie in Deutschland untersucht hat. Wie ist die Aufarbeitung seitdem vorangeschritten?

Kirsten Schwenke: Die Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt und Missbrauchsfällen in der Evangelischen Kirche und Diakonie hat uns im vergangenen Jahr intensiv beschäftigt – und wird uns noch auf lange Zeit beschäftigen. Mit der ForuM-Studie wurde ein Stück weit Klarheit geschaffen, wie sexualisierte Gewalt in Kirche und Diakonie seit den 1950er-Jahren möglich sein konnte. Die Fälle von sexualisierter Gewalt und Missbrauch in der evangelischen Kirche und Diakonie haben uns alle erschüttert. Die Studie hilft uns nun, Fälle künftig besser aufzuarbeiten und Prävention wirksamer zu gestalten. Um die Aufarbeitung weiter voranzutreiben, haben die Landeskirchen und Landesverbände der Diakonie "Unabhängige Regionale Aufarbeitungskommissionen" (URAKs) ins Leben gerufen. Im Frühjahr sollen alle neun Kommissionen ihre Arbeit aufnehmen. 

Zum 1. Januar ist zudem die Rahmenbestimmung "Schutz vor und Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt" der Diakonie Deutschland in Kraft getreten, die verbindliche Regelungen zum Umgang mit sexualisierter Gewalt festlegt. Damit wurden einheitliche Standards in der Diakonie geschaffen, die dabei helfen, sexualisierte Gewalt zu verhindern und deren Aufdeckung frühzeitig zu ermöglichen.
Auch bei der Reform der Anerkennungsrichtlinie der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) geht es voran. Im Mittelpunkt stehen dabei die Menschen mit ihren individuellen Bedürfnissen. So sollen künftig die Anerkennungsleistungen an den individuellen Folgen bemessen werden. Der Rat der EKD wird vermutlich im März eine finale Fassung beschließen.

Die umfassende Aufarbeitung vergangener Fälle von sexualisierter Gewalt ist essenziell, damit betroffenen Personen so weit wie möglich Gerechtigkeit widerfahren kann, und wird uns also auch in diesem Jahr intensiv beschäftigen.

Für ihre Pflege-Kampagne konnte die Diakonie Deutschland prominente Fürsprecher*innen wie Schauspielerin Anna Maria Mühe gewinnen.

Für ihre Pflege-Kampagne konnte die Diakonie Deutschland prominente Fürsprecher*innen wie Schauspielerin Anna Maria Mühe gewinnen.

Welche weiteren Themen werden für die Diakonie RWL in diesem Jahr besonders wichtig sein?

Kirsten Schwenke: Dieses Jahr hält viele Überraschungen für uns bereit. Denn wir stehen nicht nur mit dem erneuten Amtsantritt von Donald Trump in den USA vor unabsehbaren Herausforderungen. Auch in Deutschland wird sich bei den vorgezogenen Neuwahlen im Februar zeigen, ob sich im Bund stabile Mehrheiten finden. Das Ende der Ampelkoalition hat gezeigt, dass unsere parlamentarische Demokratie nicht so gefestigt ist, wie wir es uns wünschen würden. Wegen der vorgezogenen Neuwahlen werden wir bis weit in dieses Jahr hinein keinen Bundeshaushalt haben. Das bedeutet für unsere Träger, dass sie in ihren Programmen nicht sicher planen können und gegebenenfalls finanziell in Vorleistungen gehen müssen. Das ist ein Risiko. Für unsere Demokratie ist es wichtig, dass demokratische Parteien ihre Kompromissfähigkeit bewahren, denn es gibt viele Themen, die angepackt werden müssen. Die Diakonie Deutschland hat zur Bundestagswahl einige zentrale Forderungen aufgestellt, denen ich mich nur anschließen kann. Wir müssen Kinderarmut ernsthaft bekämpfen, mehr Inklusion ermöglichen und die Integration in den Arbeitsmarkt verbessern.

Christian Heine-Göttelmann: Ein Thema, das für mich hinsichtlich der Bundestagswahl zentral ist, ist die Pflege. Unsere Gesellschaft wird älter, wodurch immer mehr Menschen Pflege benötigen. Gleichzeitig stehen dafür viel zu wenige Pflegekräfte zur Verfügung. Die neue Bundesregierung muss die Rahmenbedingungen der Pflege dringend verbessern, sodass die Pflege in Deutschland auch in Zukunft gesichert und für alle Menschen bezahlbar ist. Um auf das Thema aufmerksam zu machen und die Politik zum Handeln zu bewegen, unterstützen wir die Pflege-Kampagne der Diakonie Deutschland. Neben der Bundestagswahl spielen für uns in diesem Jahr auch die Kommunalwahlen in NRW im September eine besondere Rolle. Aufgrund der unzureichenden Finanzierung durch Bund und Land sind es oft die Kommunen, die in Bereichen wie dem offenen Ganztag, Kitas oder Frauenhäusern entscheidend eingreifen müssen. Deswegen werden wir auch die Kommunalwahlen intensiv begleiten.

Zwei Mütter, die in der Ausstellung "On Motherhood" anonym und frei über ihre Gefühle in Bezug auf Mutterschaft sprechen.

Zwei Mütter, die in der Ausstellung "On Motherhood" anonym und frei über ihre Gefühle in Bezug auf Mutterschaft sprechen.

Welche Projekte werden Sie neben den anstehenden Wahlen in diesem Jahr noch beschäftigen?

Kirsten Schwenke: Für dieses Jahr haben wir einige spannende Projekte geplant. Ab dem 21. Januar zeigen wir drei Wochen lang im NRW-Landtag eine Ausstellung zum Thema Mutterschaft. Die Ausstellung "On Motherhood" der Künstlerin Dolors Planiol zeigt Frauen, die anonym und frei über ihre Gefühle in Bezug auf Mutterschaft sprechen. Ergänzend dazu stellen wir die wichtige Arbeit der evangelischen Schwangerschafts(konflikt)beratungsstellen vor.

Christian Heine-Göttelmann: Bei unserer Verbandsarbeit wird das Saarland in diesem Jahr eine besondere Rolle einnehmen. Denn wir haben gleich zwei bedeutende Jubiläen zu feiern: Die Diakonie Saar blickt auf stolze 100 Jahre ihres Bestehens zurück, während die Bahnhofsmission in Saarbrücken sogar ihr 125-jähriges Jubiläum feiert. Diese Meilensteine bieten uns nicht nur die Gelegenheit, die vergangenen Jahre Revue passieren zu lassen, sondern auch den Blick in die Zukunft zu richten. Darüber hinaus wird das Saarland in diesem Jahr durch die Bundesratspräsidentschaft eine zentrale Bühne einnehmen, indem es den Tag der Deutschen Einheit ausrichtet. In Saarbrücken ist dazu ein großes Bürgerfest geplant, und wir freuen uns darauf, aktiv daran teilzunehmen. Und im Dezember starten wir mit einer Party in das 100-jährige Jubiläumsjahr unseres Fachverbands der Evangelischen Krankenhäuser im Rheinland, Westfalen und Lippe.

Die Fragen stellte Julian Engelmann. Fotos: Diakonie RWL, Diakonie Deutschland

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Julian Engelmann
Stabsstelle Politik und Kommunikation
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