Kundgebung vor dem Landtag
"Ich bin eure Zukunft" steht auf dem Schild, das Kolja mit beiden Händen in die Höhe reckt. Gemeinsam mit seiner Mutter ist der Siebenjährige zur Kundgebung auf die Wiese vor dem NRW-Landtag in Düsseldorf gekommen. Dort ist am Donnerstag symbolisch um fünf Minuten vor Zwölf die zentrale Auftakt-Kundgebung der Kampagne "NRW bleib sozial!" mit einem lauten Pfeifkonzert und Jubel gestartet. Koljas Mutter erklärt, warum sie nicht gezögert hat, sich einen Tag Urlaub zu nehmen, um mit ihrem Kind an der Demo teilzunehmen: "Was das Personal im sozialen Sektor leistet, ist gar nicht hoch genug zu schätzen. Aber Qualität hat ihren Preis, deshalb darf nicht genau dort das Geld gekürzt werden."
Diakonie RWL-Vorstand Christian Heine-Göttelmann (li.) mit Björn-Christian Jung (re.), Referent im Geschäftsfeld Familie und junge Menschen.
"Überwältigt von der Resonanz"
Rund 140 Organisationen aus ganz Nordrhein-Westfalen unterstützen die von der Freien Wohlfahrtspflege NRW getragene Initiative zur Rettung der sozialen Infrastruktur im Land. Mitarbeitende und Ehrenamtliche der verschiedenen Träger aus allen Bereichen wie etwa Betreuung, Pflege und Beratung haben das am Donnerstag auch laut gezeigt, teils begleitet von ihren zahlreichen jungen und erwachsenen Klient*innen. Mit etwa 5000 Teilnehmenden hatten die Veranstalter gerechnet. Dass es schließlich rund 25.000 waren, zeigt, wie sehr das Thema "Kürzungen im Sozialen" die Menschen bewegt.
"Wir sind von der unglaublichen Resonanz heute überwältigt", sagt Christian Heine-Göttelmann, Vorstand der Diakonie RWL, die ihrerseits mit weit mehr als tausend Mitgliedern der verschiedenen Diakonischen Werke bei der Demo dabei war. Heine-Göttelmann weiter: "Unser Dank als diakonischer Landesverband geht an alle, die zum Teil weite Wege zum NRW-Landtag auf sich genommen haben, um unsere soziale Infrastruktur am Leben zu erhalten. Es muss sich jetzt etwas bewegen, wir brauchen mehr Geld im System für Kitas, Offene Ganztagsschulen und andere soziale Einrichtungen. Wenn die Politik sagt, das Geld reiche nicht, dann kann es nicht sein, dass unser Sozialstaat an der Schuldenbremse zerbricht – dann dürfen wir uns nicht weiterhin an eine schwarze Null klammern."
Fahnen als Blickfang: Die Diakonie RWL war mit tausenden Demonstrierenden bei der Kundgebung vertreten.
"Mit dem Rücken zur Wand"
"So wie jetzt kann es nicht weitergehen", betont auch Dr. Marcel Fischell, Geschäftsführer des Evangelischen Bildungswerks im Kirchenkreis Duisburg und Vorsitzender des Evangelischen Fachverbands für die Offene Ganztagsschule (OGS). Er ist mit mehr als 200 Mitarbeitenden aus 18 OGS in Duisburg und Moers zur Kundgebung gekommen. "Wir stehen mit dem Rücken zur Wand. Die Beschäftigten können nur eine Betreuung der Kinder leisten und keine Bildung. Das wissen die Eltern, und das wissen die Lehrkräfte." Er warnt davor, dass eine über Jahrzehnte aufgebaute und bewährte Infrastruktur verloren geht.
Während der Kundgebung fand im Landtag die Anhörung im Haushalts- und Finanzausschuss zum Entwurf der Landesregierung für den Haushalt 2024 statt.
Dauernotstand
Umso wichtiger sei "dieses starke und klare Signal, das die Kundgebung heute setzt", sagt Tim Rietzke, Leiter Geschäftsfeld Familie und junge Menschen bei der Diakonie RWL, zu dem auch die OGS gehören. "Ich freue mich, dass das Betreuungsthema hier im Vordergrund steht. Aber unsere Botschaft muss sein, dass der soziale Sektor insgesamt mit all seinen Feldern gestärkt und auskömmlich finanziert werden muss." Wenn der Haushalt der Landesregierung im nächsten Jahr nicht mehr in den Sozialbereich investiere, hätten nicht nur Kitas und OGS existenzielle Probleme. Auch Einrichtungen und Beratungsstellen aus der Familien- und Jugendhilfe sowie der Pflege, Eingliederungshilfe, Migrationshilfe, Freiwilligendienste, Schuldnerberatung und Wohnungslosenhilfe müssten Angebote kürzen oder ganz streichen und Personal abbauen.
"Es ist ein Dauernotstand. Und 25.000 Teilnehmende heute zeigen, dass ein soziales NRW von gesamtgesellschaftlichem Interesse ist", ergänzt Sabine Prott, die bei der Diakonie RWL das Geschäftsfeld Tageseinrichtungen für Kinder leitet.
Blick auf die Bühne: Lautstark und sichtbar machten die Teilnehmenden auf die dramatische Lage im Sozialen aufmerksam.
"Heute sind wir laut"
"Seit Jahren machen wir auf die Krise im Sozialen aufmerksam, aber passiert ist viel zu wenig", sagt Marita, die in einer Jugendhilfeeinrichtung in Mülheim arbeitet. Sie und auch ihre Kolleg*innen aus anderen sozialen Bereichen hätten das Gefühl, "dass die Politik uns entweder gar nicht wahrnimmt oder uns nicht ernst nimmt". "Aber heute sind wir laut, und wir bleiben es auch", sagt sie.
Auf der Bühne vor dem Landtag nehmen während der Kundgebung auch politische Vertreter*innen Stellung zu den Forderungen nach mehr Geld. "Die Haushaltslage ist angespannt", argumentiert etwa Verena Schäffer, Fraktionsvorsitzende der Grünen. "Die Frage ist, wo wir Prioritäten setzen. Versprechungen helfen Ihnen gar nicht, aber wir suchen Lösungen."
Der Fraktionsvorsitzende der SPD im Landtag, Jochen Ott, unterstützt den Protest und sagt: "Die Träger sozialer Einrichtungen müssen deutlich entlastet werden und brauchen eine solide Grundfinanzierung." Es fordere jedoch "eine große Kraftanstrengung", um das Problem zu lösen. Allein für die Kitas sei ein Rettungspaket in der Größenordnung von 500 Millionen Euro notwendig.
Abseits der Kundgebung ergaben sich immer wieder intensive Gespräche, hier Diakonie RWL-Vorstand Christian Heine-Göttelmann mit CDU-Fraktionschef Thorsten Schick (re.)
"Kraftvolles Signal"
Der familienpolitische Sprecher der FDP-Fraktion, Marcel Hafke, beschreibt die Situation so: "Die Hütte brennt. Nur wenn das Familien- und das Finanzministerium aufwachen, wird etwas passieren." Er forderte Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) auf, "die auskömmliche Finanzierung und den Erhalt der sozialen Infrastruktur in Nordrhein-Westfalen zur Chefsache zu machen".
Der Vorsitzende der CDU-Landtagsfraktion, Thorsten Schick, nennt die Kundgebung "ein kraftvolles Signal". Er betont, dass die Politik jedoch – etwa im Bereich der Pflege - "durchaus Stellschrauben gedreht" habe. So seien etwa an Pflegeschulen mehr Plätze geschaffen worden. Schick: "Gerade die Pflege zeigt, dass Politik nicht nur redet, sondern handelt."
"Wir haben genug der guten Worte", sagt Christian Woltering, Vorsitzender der Freien Wohlfahrtspflege NRW.
"Genug der guten Worte"
Christian Woltering, Vorsitzender der Freien Wohlfahrtspflege NRW, sieht das anders und machte in seinem Schlusswort nochmals die Kritik und die Forderungen der Wohlfahrtsverbände an die Politik deutlich: "Wir haben genug der guten Worte. Es ist an der Zeit zu kämpfen und zu zeigen, dass wir nicht still untergehen werden. Es geht hier nicht um Sozial-Klimbim, sondern um Daseinsvorsorge." Dafür sei eine spürbare finanzielle Verbesserung nötig und ein klares Bekenntnis zur sozialen Infrastruktur in NRW.
Die Freie Wohlfahrtspflege NRW fordert politische Anerkennung und endlich spürbare finanzielle Verbesserungen. "Die soziale Infrastruktur in NRW ist auskömmlich abzusichern, sodass Arbeiten unter vernünftigen Bedingungen möglich ist", so Woltering weiter. Sein Appell an die Politiker*innen, die nebenan im Landtag zur Haushaltsanhörung im Finanzausschuss zusammensaßen: "Setzt eure Prioritäten richtig und lasst euch das Sozialsystem etwas wert sein."
Text: Verena Bretz, Fotos: Caritas in NRW/Markus Lahrmann, Diakonie RWL/Ilka Hahn und Franz Werfel, DRK Nordrhein/Andreas Brockmann, EKiR/Aaron Clamann
Pressemitteilung der Diakonie RWL: Kollaps des Betreuungssystems verhindern!
Diakonie RWL-Vorstand Christian Heine-Göttelmann im Interview mit "Rheinpegel" – der Düsseldorf-Podcast der RP (Minute: 4:41)
Diakonie RWL