Gesellschaft und Christentum
Die Diakonie hat zur NRW-Landtagswahl einen Sozial-O-Mat aufgelegt, um die Positionen der Parteien zu sozialen Themen abzufragen. Man könnte das als Versuch politischer Einflussnahme verstehen.
Christian Heine-Göttelmann: Das hätte ich anders formuliert. (lacht) Wir haben tatsächlich entschieden, soziale Herausforderungen in der Politik mehr zur Sprache zu bringen. Der Sozial-O-Mat ist der Versuch, die Parteien zur Stellungnahme zu bewegen. Sie haben die Chance, sich zu unseren Thesen zu verhalten. Zugleich möchten wir mit der Aktion auf soziale Themen aufmerksam machen.
Sehen Sie ein Auseinanderdriften zwischen Arm und Reich in Deutschland?
Ja, dafür gibt es statistische Belege. Vor wenigen Jahren hatte etwa ein Fünftel aller Kinder und Jugendlichen Kontakt mit dem Jugendamt und hat in irgendeiner Weise das Hilfesystem in Anspruch genommen, heute ist es ein Viertel. Die Zahlen steigen also, und das hat soziale Ursachen: Manche Aufgaben werden nicht mehr selbstverständlich von den Familien übernommen, die Welt ist komplexer geworden, es gibt neue Einflüsse auf Kinder und Jugendliche. Das ist nicht nur eine Frage von Armut, aber auch.
Bildungschancen und Teilhabemöglichkeiten hängen in Deutschland auch vom Einkommen der Familien ab. Darum halten wir es für eine Aufgabe von Politik, an solchen Stellen für sozialen Ausgleich zu sorgen. Deutschland versteht sich als Sozialstaat, es gilt das Subsidiariätsprinzip. Das heißt, gewisse Aufgaben können auch durch bürgerschaftliche Initiativen oder das Engagement der Diakonie und der Kirchen übernommen werden, aber eigentlich sind und bleiben es Aufgaben des Staates. Das gerät gerade etwas aus dem Blick.
Unterwegs im Hochwassergebiet: Die zehn mobilen Teams der Diakonie RWL und der Diakonie Katastrophenhilfe sind an ihren blauen Jacken zu erkennen.
Die Diakonie schickt "Flutengel" in die Regionen, die vom Hochwasser im Sommer stark betroffen waren und sind. Ist Katastrophenhilfe nicht auch eher eine staatliche Aufgabe?
Unsere Teams, die wir gemeinsam mit der Diakonie Katastrophenhilfe und der Evangelischen Kirche im Rheinland stellen, übernehmen vor Ort diverse Aufgaben von der Unterstützung bei Anträgen zum Wiederaufbau bis zur psycho-sozialen Begleitung. Das ist von der Politik gewünscht. Als die Flutkatastrophe passierte, war ich gerade im Urlaub, hab den aber abgebrochen, weil die Landesregierung uns damals gebeten hat, möglichst schnell Hilfsprogramme aufzulegen. Das haben wir getan.
Die Menschen in den Hochwasserregionen sind so schwer traumatisiert, dass sie leider auch langfristig mit den Folgen zu tun haben. Wir erleben zum Beispiel, dass ein stärkerer Regen genügt, um die Leute in helle Aufregung zu versetzen. Diakonie und Kirche sind sehr gefordert, dort zu helfen, etwa auch durch Quartiersmanager, die Initiativen vor Ort koordinieren.
Zwei ukrainische Kinder verabschieden sich an der Grenze zu Polen von ihrem Vater.
Die Diakonie betreibt ein Viertel aller Alten- und Pflegeheime. Was hören sie von dort über den Umgang alter Menschen mit dem Ukrainekrieg? Weckt das aktuelle Geschehen Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg?
Ja, es gibt alte Menschen, die ihr Leben lang nicht über den Zweiten Weltkrieg reden konnten oder wollten und es jetzt tun. Aber der Ukrainekrieg betrifft die Diakonie an vielen Stellen. Etwa, wenn Geflüchtete nun ins Hilfesystem kommen und wir sie etwa in Kitas oder Einrichtungen für Menschen mit Behinderung aufnehmen. Natürlich kann man Menschen in bestehende Gruppen eingliedern, Kapazitäten erweitern, aber die Frage ist, welche Leistungen bekommen sie eigentlich. Eine gewisse Grundversorgung ist gesichert, doch fehlen uns vor allem Fachkräfte. Wir wollen helfen, können aber in gewissen Bereichen etwa der Jugend- oder Behindertenhilfe derzeit keine neuen Angebote mehr schaffen.
Gerade aus der Ukraine gibt es aber doch auch Fachkräfte unter den Geflüchteten.
Ja, aber darüber haben wir noch keinerlei Überblick. Darum wissen wir auch nicht, ob das annähernd genügen könnte. Am Anfang haben viele Familien Angehörige aufgenommen, etwa auch Kinder mit Behinderung. Doch irgendwann brauchen diese Menschen Unterstützung und kommen nun auch zeitverzögert in die Hilfesysteme. Da liegt noch eine große Aufgabe vor uns.
Die Themen Trauer und Tod gehören in Senioren- und Pflegeeinrichtungen zum Alltag.
An Karfreitag erinnern die Christen an die Passion Jesu. Welchen Sinn hat es in einer krisenhaften Zeit, sich Leid zu vergegenwärtigen?
Eine große Stärke des Christentums liegt in meinen Augen darin, Todesangst zu nehmen und Lebensmut zu vermitteln. Der Karfreitag rückt ins Bewusstsein, dass Leiden und Sterben zum Leben dazugehören.
Das ist in der heutigen Zeit provokant, weil viele Menschen das Leid als eine Ausnahmesituation verstehen, die möglichst vermieden werden sollte. Ich glaube dagegen, dass Scheitern, Leid und Tod zu den menschlichen Erfahrungen dazugehören. Sich mit der Passion Christi zu beschäftigen, ist keine depressive Lebenshaltung, sondern bedeutet, die menschliche Existenz zu betrachten, wie sie ist.
Wir erleben gerade eine Debatte darüber, wie viel Leid Menschen zuzumuten ist und wie selbstbestimmt sie über das Ende ihres Leidens entscheiden sollten. Wie stehen sie zum assistierten Suizid in Pflegeeinrichtungen? Darf eine diakonische oder kirchliche Einrichtung bei einem Suizidwunsch helfen?
Aus christlicher Sicht besitzt jeder Mensch Würde. Manche verstehen das wie eine Essenz, die dem Körper innewohnt. Als Therapeut sehe ich es eher so, dass sich Würde in der Interaktion von Menschen erweisen muss. Und darum zeigt sich Würde für mich auch in dem Zugeständnis an Menschen, über sich und ihr Leben zu entscheiden. Höchste Priorität hat gerade deshalb der Ausbau der palliativen Versorgung.
Ich halte den assistierten Suizid nicht in allen sozialen Zusammenhängen für vertretbar, aber im Falle eines unheilbaren Leidens, das unabwendbar zum Tod führt, beweist sich Würde für mich darin, einem Menschen die Autonomie über sein Leben zu erhalten. Manche in der Evangelischen Kirche vertreten eine andere Haltung. Ich finde es wichtig, dass wir darüber offen debattieren. Das hat die Diakonie mit angeregt.
"Auf die Frage, wie wir unsere Welt in Zukunft gestalten wollen, sollte Abschreckung nicht die einzige Antwort sein", sagt Diakonie RWL-Vorstand Christian Heine-Göttelmann.
Welche Osterbotschaft haben Sie für alle Menschen, die sich durch Krieg, Krankheit, Katastrophen bedrängt fühlen?
Im Sinne des Ostergeschehens: Habt keine Angst! Das bedeutet für mich zum Beispiel auch, die Utopien einer Friedensethik nicht ganz aufzugeben. Die Gesellschaft hat sich unter dem Eindruck des Ukrainekriegs sehr schnell entschieden, auf Abschreckung und Aufrüstung zu setzen.
Die pazifistische Tradition in Deutschland, die unter anderem zur Friedlichen Revolution 1989 geführt hat, hat aber auch ihre Berechtigung. Ich denke, es ist eine Aufgabe von Diakonie und Kirche, die Idee einer angstfreien und gewaltfreien Welt weiter in gesellschaftliche Debatten einzubringen. Natürlich ist das eine Vision. Und natürlich darf man etwa den Menschen in der Ukraine das Recht auf Selbstverteidigung nicht absprechen. Aber auf die Frage, wie wir unsere Welt in Zukunft gestalten wollen, sollte Abschreckung nicht die einzige Antwort sein.
Das Interview führte Dorothee Krings (Rheinische Post),
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