24. Mai 2024

Europawahl 2024

Für ein menschliches Europa!

In diesem Monat feiern wir gleich zwei Jubiläen bedeutender historischer Ereignisse. Das Grundgesetz wird 75, die Barmer Theologische Erklärung 90 Jahre alt. Im Interview sprechen die Diakonie RWL-Vorstände Kirsten Schwenke und Christian Heine-Göttelmann über die bleibende Relevanz beider Ereignisse, aktuelle Herausforderungen für unsere Demokratie und die anstehende Europawahl.

  • Eine Schattenfigur hebt einen Stacheldrahtzaun vor der Europaflagge an.
  • Kirsten Schwenke und Christian Heine-Göttelmann, Vorstände der Diakonie RWL.
  • Banner mit der Aufschrift 75 Jahre Grundgesetz. Demokratie made in Bonn.

Am 23. Mai 2024 ist das Grundgesetz 75 Jahre alt geworden. Zur Feierlichkeit gab es in Berlin einen Staatsakt, in Berlin und Bonn läuft aktuell ein dreitägiges "Demokratiefest". Trotz der Festlichkeiten scheint die Stimmung in diesem Jahr nicht so euphorisch wie noch vor fünf Jahren zum 70. Jubiläum. Woran liegt das?

Kirsten Schwenke: Die vielfältigen und anhaltenden Krisen stellen unsere Demokratie auf eine Bewährungsprobe. Die Corona-Pandemie, der russische Angriffskrieg auf die Ukraine und die Klimakrise haben viele soziale Probleme in Deutschland verschärft. Gleichzeitig versuchen rechtsextreme Akteure, die Gesellschaft zu polarisieren und in populistischer Manier Stimmung gegen demokratische Institutionen, Medien und marginalisierte Gruppen zu machen. Auf diese Herausforderungen muss unsere pluralistische Gesellschaft Antworten finden.

Die Urschrift des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland von 1949 mit den Unterschriften.

Die Urschrift des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland von 1949, unterzeichnet von Konrad Adenauer (CDU), Präsident des Parlamentarischen Rates, und seinen Vizepräsidenten Adolph Schönfelder (SPD) und Hermann Schäfer (FDP).

Nicht nur das Grundgesetz wird diesen Monat 75 Jahre alt, auch die Barmer Theologische Erklärung feiert am 31. Mai ihr 90-jähriges Jubiläum. Beide wurden im heutigen NRW erarbeitet. Worin besteht aus Ihrer Sicht darüber hinaus die Verknüpfung dieser beiden Ereignisse?

Christian Heine-Göttelmann: Sowohl das Grundgesetz als auch die Barmer Theologische Erklärung repräsentieren Umbrüche in der Geschichte Deutschlands, in rechtlicher und theologischer Hinsicht. Die Barmer Theologische Erklärung war ein Meilenstein in der Evangelischen Theologie und gilt als zentrales Dokument des Kirchenkampfes in der NS-Zeit. Darin betonten evangelische Christen die Unantastbarkeit des Evangeliums und stellten sich klar gegen die nationalsozialistische Gesinnung der selbsternannten Deutschen Christen. Sie wandten sich gegen die Gleichschaltung durch die Nationalsozialisten und grenzten sich von der nationalsozialistischen Weltanschauung ab.

Kirsten Schwenke: Wie die Barmer Theologische Erklärung markiert auch das Grundgesetz ausdrücklich einen Bruch mit der nationalsozialistischen Herrschaft. Die Mütter und Väter des Grundgesetzes haben Konsequenzen aus der NS-Zeit gezogen, indem sie im Grundgesetz eine Machtverteilung zwischen Bund und Ländern und Abwehrrechte der Bürger*innen gegenüber dem Staat formuliert haben. Das Grundgesetz garantiert beispielsweise die Religions- und Meinungsfreiheit jeder und jedes Einzelnen.

Christian Heine-Göttelmann, Vorstand Diakonie RWL.

"Als Diakonie stellen wir uns klar gegen extremistische politische Positionen und Akteure, die Menschen ausgrenzen", sagt Diakonie RWL-Vorstand Christian Heine-Göttelmann.

Der bekannteste Satz des Deutschen Grundgesetzes ist: "Die Würde des Menschen ist unantastbar." Was bedeutet Ihnen dieser Satz?

Christian Heine-Göttelmann: Es ist kein Zufall, dass dieser Satz im ersten Artikel des Grundgesetzes steht. Der Satz ist eine Lehre aus der NS-Zeit, nachdem die Nationalsozialisten die Menschenwürde aufs Tiefste missachtet haben. Er garantiert die Würde jedes einzelnen Menschen – ohne Vorbedingungen. Diese Bedingungslosigkeit ist auch für uns als Diakonie ein zentrales Leitmotiv unserer Arbeit. Alle Menschen haben eine Würde, egal welcher Herkunft, welchen Geschlechts, welcher Religion, mit oder ohne Behinderung, arm oder reich, jung oder alt, gesund oder krank. Christliche Nächstenliebe heißt für uns, für alle Menschen da zu sein. Zugleich stellen wir uns als Diakonie klar gegen extremistische politische Positionen und Akteure, die Menschen ausgrenzen.

Am 9. Juni wird ein neues Europäisches Parlament gewählt. Wiederholte körperliche Angriffe auf Politiker*innen und ehrenamtliche Wahlkampfhelfer*innen in den vergangenen Wochen überschatten den Wahlkampf. Welche Gefahr geht von diesen Gewaltvorfällen aus?

Christian Heine-Göttelmann: In einer Demokratie dürfen wir Gewalt gegen Politiker*innen niemals akzeptieren. Wenn politisch aktive Menschen Hasskriminalität oder tätliche Angriffe befürchten müssen, werden wir Schwierigkeiten bekommen, überhaupt noch Menschen zu finden, die sich für unsere Gemeinschaft einsetzen und zum Beispiel für den Stadt- oder Gemeinderat kandidieren. Das gefährdet auf kurz oder lang den Zusammenhalt in unserer Gesellschaft und damit die Demokratie insgesamt. Als Diakonie unterstützen wir politisches Engagement ausdrücklich, wenn es sich dabei um Parteien handelt, die auf dem Boden des Grundgesetzes stehen, das eine wichtige Basis für die diakonische Arbeit ist.

Kirsten Schwenke: Angriffe auf Politiker*innen gelten nicht nur der Person, sondern richten sich auch gegen unsere freiheitliche demokratische Grundordnung. Eine gute Verfassung wie unser Grundgesetz reicht allein nicht für eine funktionierende Demokratie. Eine Demokratie braucht Demokratinnen und Demokraten. Sie funktioniert nur, wenn sie auf einem gewissen gesellschaftlichen Konsens beruht.

Kirsten Schwenke, Vorständin der Diakonie RWL.

"Eine Demokratie braucht Demokratinnen und Demokraten", sagt Diakonie RWL-Vorständin Kirsten Schwenke. "Sie funktioniert nur, wenn sie auf einem gewissen gesellschaftlichen Konsens beruht."

Was sind für die Diakonie bei der Europawahl die wichtigsten Themen? 

Christian Heine-Göttelmann: Bei der Migrationspolitik geht es um viel mehr als um Identitäts- und Kulturkampf. Es geht um Menschen. Ich wünsche mir ein Europa, das auch unter Druck sein menschliches Antlitz bewahrt. Allen Menschen, die auf der Suche nach Schutz an eine EU-Grenze kommen, sollte Zugang zum Hoheitsgebiet gewährt werden, um in einem fairen Verfahren Asyl beantragen zu können. Außerdem muss eine verbindliche und solidarische Verteilung von Asylsuchenden auf alle EU-Mitgliedstaaten sichergestellt und Geflüchteten eine schnellstmögliche Integration in den Arbeitsmarkt ermöglicht werden.

Kirsten Schwenke: Als Diakonie setzen wir uns wegen unserer christlichen Überzeugungen für europäische Werte wie Demokratie, Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit und Solidarität ein. Damit beziehen wir eine klare Haltung gegen Extremismus und Populismus und für eine offene demokratische Gesellschaft in Deutschland und in Europa. Sowohl das Grundgesetz als auch die Barmer Theologische Erklärung ermutigen uns dazu.

Die Fragen stellte Julian Engelmann. Fotos: Andreas Endermann/Diakonie RWL, Canva/alvargartorre, Franz Werfel/Diakonie RWL

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Julian Engelmann
Stabsstelle Politik und Kommunikation
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