Diakonie gegen Armut
Reinhard van Spankeren im Gespräch mit Ernst-Ulrich Huster
Vor zwei Wochen ist der neue, fünfte Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung erschienen. Der Bericht war eigentlich schon länger fertig. Es wurde aber noch redigiert und gestrichen. Armut ist ein strittiges Thema. Schon zu Methodenfragen der Statistik gibt es keinen Konsens. Noch mehr gerungen wird um die Interpretation der erhobenen Zahlen, Daten und Fakten. Über die "Lebenslage Armut" weiß man inzwischen ziemlich viel. Zum Beispiel, dass Armut "mehrdimensional" ist. Es bleibt die Grundsatzfrage, wie man Armut und Ausgrenzung erfolgreich bekämpfen kann.
Zu den nationalen Armutsberichten ist die Bundesregierung seit der ersten rot-grünen Regierung gesetzlich verpflichtet. Ernst-Ulrich Huster gehört zu den Wissenschaftlern, die die heutige Sozialberichterstattung mit auf den Weg gebracht haben. Auf die Zeit des "Wirtschaftswunders" folgte 1966 ein erster, von heute aus gesehen harmloser Konjunktureinbruch. Aber Armut geriet allmählich neu in den Blick. Ab 1973 stiegen die Arbeitslosenzahlen. Kommunen, Kirchenvertreter und Wohlfahrtsverbände sammelten Daten und formulierten die ersten Armutsberichte. Es begann die "kreative Phase der Armutsforschung", wie Huster diese Zeit im Rückblick charakterisiert.
Einschränkung im Lebensalltag
Er selbst hielt 1982 in Loccum einen Vortrag mit dem provozierenden Titel "Wie viel Armut braucht die Gesellschaft?" Die Frankfurter Rundschau druckte den Vortrag auf ihrer Dokumentationsseite und titelte "Die Gesellschaft braucht Armut als Schreckgespenst". Heute gibt es kommunale, regionale, nationale und europaweite Armutsberichte. Ernst-Ulrich Huster war auch nationaler Berichterstatter für die Sozialberichterstattung der Europäischen Kommission. In diesem Zusammenhang lobt er Nordrhein-Westfalen: "NRW ist das Bundesland mit der ausführlichsten Sozialberichterstattung."
Armut ist für den Sozialforscher Huster so vor allem eine "Einschränkung im Lebensalltag, gemessen an dem, was dem Durchschnitt zur Verfügung steht". Aber diese "relative Armut" bedeutet auch in einem wohlhabenden Land wie Deutschland nicht selten ein Leben unter dem Existenzminimum. Huster folgt den Berechnungen und Argumenten der Wohlfahrtsverbände und hält eine Erhöhung der Mindestsicherung für unabdingbar. Für nicht wenige arme Menschen sei es schon schwierig, sich angemessen mit Lebensmitteln zu versorgen: "Daran, dass so viele Menschen zu den Tafeln gehen, sieht man, dass das Einkommen schlicht nicht reicht, um sich ausreichend zu ernähren", betont er.
Bildungsarmut kurz gefasst
Wenn Schulkinder aus finanziellen Gründen nicht in der Lage sind, an Klassenfahrten oder Schulausflügen teilzunehmen, sei auch das ein Zeichen von Armut. Fast noch entscheidender sind für Huster die immateriellen Aspekte. "Bildungsarmut kurz gefasst" zeige sich darin, dass Kinder aus armen Elternhäusern im unteren Bereich des Schulsystems landeten und oft keinen Schulabschluss machten. So wie Armut als relative Armut zu fassen sei, seien auf der anderen Seite der sozialen Leiter auch Wohlstand oder Reichtum relative Begriffe. Nehme man 300 Prozent des Durchschnittseinkommens als Richtgröße, wären etwa sechs Prozent der Bundesbürger reich – immerhin in absoluten Zahlen nahezu fünf Millionen.
Wie zeigt sich Reichtum? Wer im Wohlstand lebt, lebt angenehm, könnte man sagen. In der nüchternen Sprache des Sozialforschers Ernst-Ulrich Huster: "Reiche geben im Verhältnis zu ihrem Einkommen deutlich weniger für Pflichtposten wie Wohnen oder Essen aus und das trotz des hohen Lebensstandards. Das Geld der Reichen geht dann in Dinge wie Kommunikation, Reisen oder Urlaube und in Vermögensbildung." Die oberen zehn Prozent der Einkommensbezieher konzentrieren auf sich – je nach Erfassungssystem – um die 60 Prozent aller Vermögenswerte, so Huster.
"Bildung darf Wissen nicht entwerten"
Enteignung der Unterschicht
"Armut ist ein langfristig wirkender Prozess", hält der Experte fest. "Es gibt deutliche Hinweise darauf", so kommentiert Huster die Forschungsliteratur, "dass Armut sich sozial vererbt." Dazu trage auch bei, dass die Fähigkeiten, die Unterschichtskinder entwickelt haben, um ihr Leben zu meistern, in den mittelschichtsorientierten Kindergärten und Grundschulen wenig gelten. Huster spricht hier von einer Enteignung der sozial schwächeren Schichten, deren Wissen nicht wahrgenommen oder abgewertet wird. "Die feine Gesellschaft schließt sich ab und andere aus." Dagegenhalten könne man zum Beispiel mit Paten, die Kinder aus der Unterschicht begleiten, ihre Fähigkeiten anerkennen und den Transfer in das herrschende Wertesystem unterstützen.
Problematisch findet er Hilfsangebote, die die Bewältigungsstrategien von armen Kindern und Jugendlichen missachten. Im schlimmsten Fall würden bildungsbürgerliche "Förderangebote" gemacht – oder schlicht Medikamente gegen unangepasstes Verhalten eingesetzt. Auf keinen Fall dürfe man arme Kinder aus ihrer eigenen Umwelt entfremden, ohne ihnen eine Perspektive zu bieten, meint der Politikwissenschaftler.
Menschenwürde und soziale Kälte
Worin findet das Soziale seine tiefste Begründung und seinen wesentlichen Maßstab? Der Politikwissenschaftler bringt hier die wichtigsten Artikel des Grundgesetzes, die unveräußerliche Menschenwürde, ins Spiel. Letztlich wurzele dies in der jüdisch-christlichen Idee von der Gottesebenbildlichkeit des Menschen. Kernprinzip des Sozialstaatsgebots sei es, die Würde des Menschen so zu wahren, dass er an der Gesellschaft teilhaben könne. Diese Teilhabe sei mehr als das nackte Überleben zu sichern. Wird das Ziel der sozialen Teilhabe aller nicht erreicht, dann breite sich in dieser Gesellschaft "soziale Kälte" aus.
Soziale Kälte oder auch soziale Distanz sei vor allem dann und dort zu beobachten, wo bei den oberen zehn Prozent der Gesellschaft das Gefühl der Verantwortung für das Ganze verlorengegangen sei. Die sozialen "Näheverhältnisse" der Nachkriegszeit mit ihrer sozialen Kontrolle und ihren vielfältigen Diskriminierungen will Huster auf Nachfrage nicht idealisieren. Seine eigenen Erlebnisse als Flüchtlingskind aus der DDR lassen ihn hier nicht nostalgisch werden. Dennoch scheint ihm, dass gerade Jüngere heute oft einen Sinn für gemeinsame Verantwortung vermissen lassen. Werte wie Fairness und sozialer Ausgleich nähmen ab, Bürgerkinder spielten nicht mehr selbstverständlich mit Kindern aus armen Elternhäusern.
Prof. Dr. Ernst-Ulrich Huster
Video-Interview (Langfassung, 6 Min.)
Gute Beispiele: Tafeln
Huster verweist aber auch auf gute Beispiele. Dazu zählen für ihn das Engagement kirchlich gebundener Menschen bei den Tafeln. Oder auch der Einsatz in der Hilfe für Flüchtlinge. Aber auch Patenschaften, so hält er fest, ersetzen nicht gute staatliche Strukturen. Bei aller Sympathie für praktische Formen der Armenhilfe aus der Gesellschaft heraus, sei doch die Einbindung in sozialstaatliche Strukturen unaufgebbar. Huster bewertet Tafeln und Kleiderkammern ambivalent: In ihnen zeigten sich einerseits Defizite staatlicher Hilfesysteme, andererseits aber seien sie schon deshalb sinnvoll, weil sie Armut sichtbar machen und Menschen aus verschiedenen Schichten in Kontakt bringen.
Auch Wohlhabende, die sich für Ärmere engagieren, gebe es durchaus, beim Sponsoring bevorzugten reiche Wohltäter allerdings eher Kulturprojekte als soziale Initiativen. Auch die Mittelschicht müsse angesprochen und herangezogen werden, um ein Mehr an Solidarität zu erreichen. Für die Diakonie hat Ernst-Ulrich Huster, der lange Jahre auch Mitglied der Diakonischen Konferenz war, eine klare Aufgabenbestimmung.
Die Diakonie soll sich seiner Ansicht nach nicht als verkappte Sozialforschungsstelle betätigen. Das Wissen um die Bedürfnisse und Lebensrealitäten der Klientel sei das Pfund, mit dem die diakonischen Beratungsstellen und Werke wuchern könnten. Dafür müssten den Mitarbeitern dann allerdings Freiräume eingeräumt werden. Freiräume für das Sprechen und Schreiben über ihre konkreten Erfahrungen im Umgang mit Armut.
Woher kommt der Rechtspopulismus?
Von Armut und Ausgrenzung, das ist Ernst-Ulrich Huster wichtig, seien nicht nur die unteren knapp 20 Prozent der Bevölkerung betroffen. Sozialpolitik müsse die ganze untere Hälfte der Bevölkerung in den Blick nehmen. Das habe die Politik der letzten Jahre versäumt. Hier und so konnten sich, Huster zufolge, Ressentiments und Rechtspopulismus entwickeln. Die untere Mittelschicht habe erleben müssen, wie ihr Einkommen stagnierte beziehungsweise leicht sank und dass sie, auch im Gegensatz zur oberen Mittelschicht, keine Aufstiegschancen mehr hatte.
"Wir müssen gezielte Förderung auch für die untere Mittelschicht hinbekommen", fordert der Sozialwissenschaftler. Die rechten Bewegungen hätten durchaus materielle Gründe dafür, dass Teile der Bevölkerung sich abgehängt fühlten. Husters Fazit: "Wir brauchen insgesamt eine Sozialpolitik, die die gesamte Gesellschaft im Blick hat, nicht nur den unteren Bereich. Sozialpolitik hat die Aufgabe, Gesellschaft zu gestalten. Zum Zweiten müssen wir dafür sorgen, dass die, die dem Staat etwas geben können, das auch tun."
Text: Reinhard van Spankeren, Video: Christian Carls
Buchhinweis:
Ernst-Ulrich Huster: Soziale Kälte. Rückkehr zum Wolfsrudel? Stuttgart, Kröner-Verlag, 2016
Prof. Dr. Ernst-Ulrich Huster im Video-Interview zu Armut, Reichtum und der wachsenden kulturellen Distanz zwischen den Schichten.