Ausblick auf 2022
Das Hochwasser im Juli 2021 hatte verheerende Folgen: Zahlreiche Betroffene haben einen geliebten Menschen verloren, der materielle Schaden geht in die Milliarden. Inwiefern wird das Hochwasser auch in diesem Jahr eine Rolle für die Diakonie RWL spielen?
Kirsten Schwenke: Nach der Flut war schnell klar, dass das eine "Chefsache" für uns wird. Wir haben bereichsübergreifende Teams gegründet, die mehrmals wöchentlich konkrete Abläufe bei der Vergabe von Spenden besprechen. Mittlerweile sind neun mobile Teams mit mehr als 30 Mitarbeitenden vor Ort, um die Betroffenen ganz konkret zu unterstützen – nicht zuletzt bei der Antragstellung für Hochwasserhilfen. Unsere Mitarbeitenden unterstützen dabei, Baugutachter zu finden, leiten durch den Behördendschungel und vermitteln passende diakonische Angebote. Gemeinsam mit der evangelischen Kirche im Rheinland begleiten wir sie aber auch seelsorglich. Viele der Menschen werden erst 2022 absehen können, wo sie unsere Unterstützung benötigen. Ihnen sei gesagt: Wir werden weiter da sein!
Vorstand Christian Heine-Göttelmann im vom Hochwasser stark beschädigten Bad Neuenahr
Christian Heine-Göttelmann: Die Finanzierung der mobilen Teams sichern wir aus Spendenmitteln, die Diakonie und evangelische Kirche nach der Flutkatastrophe erhalten haben. Neben den Haushaltshilfen, die wir auch in den kommenden Monaten für neue Möbel und Hausrat auszahlen, entwickeln wir gerade mit dem NRW-Bauministerium eine langfristige Förderlinie für den Wiederaufbau in den Flutgebieten.
Die gemeinsame Planung mit den Kommunen ist wichtig, damit wir von der Krise zur Struktur kommen.
Ein großes Thema, das die Diakonie RWL 2021 beschäftigt hat, war der Fachkräftemangel. Wo ist es besonders schwierig?
Christian Heine-Göttelmann: Die Situation ist vor allem im Bereich der Pflege dramatisch. Die ohnehin angespannte Personallage hat sich durch Corona drastisch verschärft. Es ist klar, dass wir dringend eine große Pflegereform brauchen. Das ganze System muss finanziell auf andere Füße gestellt werden. Wir müssen auch zusehen, dass wir mehr Fachkräfte hierzulande ausbilden und Menschen aus dem Ausland für diese Berufe qualifizieren. Nicht nur in der Intensivmedizin haben zuletzt hochqualifizierte Pflegekräfte ihre Arbeitszeiten reduziert oder sind sogar ganz aus dem Beruf ausgestiegen. Die Auslöser waren häufig Frustration und die Hoffnungslosigkeit auf verbesserte Arbeitsbedingungen. Aus der anfänglichen Corona-Krisensituation hat sich eine chronische "Routine-Krise" entwickelt. Das stellt unser Versorgungssystem vor große Herausforderungen.
Die Diakonie RWL wird auch 2022 für bessere Bedingungen in Kitas und Offenen Ganztagsschulen kämpfen, verspricht Vorständin Kirsten Schwenke.
Wie sieht es bei der Betreuung von Kindern und Jugendlichen aus?
Kirsten Schwenke: Auch dort ist es schwierig. Allein bei der Kindertagesbetreuung fehlen 330.000 Fachkräfte, um bisher unerfüllte Wünsche nach einem Betreuungsplatz umzusetzen. Die Mitarbeitenden und Träger der Einrichtungen haben in den vergangenen Monaten deutliche Überlastungen gemeldet durch die Bewältigung der immer wieder veränderten Vorgaben und Regelungen. Hohe Krankenstände und offene Stellen führen bei vielen Mitarbeitenden in den Kindertageseinrichtungen zu Erschöpfung.
Und wie lässt sich das ändern?
Kirsten Schwenke: Die Diakonie RWL ist eng eingebunden in die regelmäßigen Gespräche mit dem Familienministerium, den anderen Spitzenverbänden der freien Wohlfahrtspflege, den kommunalen Spitzenverbänden, den kirchlichen Büros und den Landesjugendämtern, um Lösungen zu finden. Einen ersten Erfolg sehen wir darin, dass gemeinsam mit NRW-Familienminister Joachim Stamp die Wiederauflage des Alltagshelfer*innenprogramms erreicht wurde. Die grundsätzliche Problematik des Personalschlüssels können wir nur gemeinsam bei der anstehenden Evaluation des Kinderbildungsgesetzes angehen. Daher hoffen wir auf eine möglichst hohe Beteiligung aller Träger.
Wie wichtig ist der Kontakt zur Politik bei den anstehenden Veränderungen?
Christian Heine-Göttelmann: Rund 70 bis 80 Prozent der Themen, die an die Landespolitik herangetragen werden, kommen aus dem sozialen Bereich. Unsere Herausforderung ist es daher, die Bedarfe unserer Mitglieder gut aufbereitet an die Politik zu kommunizieren – und das nicht nur gemeinsam mit den Verbänden der Freien Wohlfahrtspflege NRW. Wir haben unsere Lobbyarbeit, die sich an den Interessen der Mitglieder orientiert, 2021 deutlich verstärkt und werden es in den kommenden Monaten weiter intensivieren. Aktuell sind wir mit allen wichtigen Parteien im Gespräch. Die Landtagswahl in NRW wird gegebenenfalls Veränderungen bringen. Für die Öffentlichkeit entwickeln wir gerade einen eigenen Sozial-O-Mat. Der funktioniert ähnlich wie der Wahl-O-Mat der Bundeszentrale für politische Bildung und soll bei der Wahlentscheidung im Mai helfen.
Das Gespräch führte Ilka Hahn. Fotos: Hans-Jürgen Bauer, Philipp Kreutzer, Shutterstock