Armut und Scham
"Arme Frauen gehen in die Prostitution, weil sie sich schämen, zum Sozialamt zu gehen", berichtet Andrea Hitzke, Leiterin der Dortmunder Mitternachtsmission während des Fachtags "Armut und Scham im Lebensverlauf" der Diakonie RWL. "Heimkinder möchten nicht ‘Heimkinder’ genannt werden. Schon das Wort steht für Diskriminierung", betont Heiner van Mil, der bei der Evangelischen Jugendhilfe Bergisches Land arbeitet.
Er beobachtet: "In jedem Lebensbereich werden unsere jungen Menschen beschämt. Die Jugendlichen schämen sich für ihren Wohnort; dafür auch, dass sie nicht in ihren Familien groß werden. Und das, was sie in der Schule erleben, bestätigt sie darin. Das gilt auch, zum Beispiel, im Sportverein." Heimkinder – dieser Begriff stehe repräsentativ für all diese Schamerfahrungen.
Menschen müssen anerkannt werden, fordert Sozialwissenschaftler Stephan Marks.
Schamerfahrungen
Scham macht sprachlos. So wird Scham in aller Regel nicht angesprochen. Dabei bleiben Schamerfahrungen oft lebenslang ein Stachel im Fleisch. Ein typischer Ort der Entwürdigung ist die Schule. Wer seinen Arbeitsplatz verliert, weil seine Firma den Job nach China auslagert, schämt sich.
An solchen Beispielen demonstrierte der Freiburger Sozialwissenschaftler Stephan Marks die Bedeutung und die vielfältigen Dimensionen von Scham als Grundgefühl in ihren persönlichen, beruflichen und gesellschaftlichen Aspekten. In der Arbeit mit Menschen kann die Schampsychologie dabei helfen, Scham und Ohnmachtsgefühle besser zu verstehen und zu verarbeiten. Scham als solche, so der Experte, gehört zum Menschsein, traumatische Scham jedoch richtet schlimmen Schaden an und bedarf der Bearbeitung.
Kinder, die in Heimen aufwachsen, erleben täglich, was es heißt, beschämt zu werden, sagt Heiner van Mil von der Ev. Jugendhilfe Bergisches Land.
Scham zum Thema machen
"Armut ist auch das Fehlen von Bildung. Das ist schamhaft besetzt. Zum Beispiel: Nicht lesen können. Das führt zu Schwierigkeiten bei der Antragstellung", betonte Annika Struwe von der Wohnungslosenhilfe der Evangelischen Stiftung Lühlerheim in Schermbeck. Eine andere Tagungsteilnehmerin berichtet: "Wohnungslose Frauen kommen oft erst dann in die Beratung, wenn die Wohnung schon verloren ist." Dass Menschen, die nicht schreiben und lesen können, "ihre Brille vergessen haben", ist in der Sozialberatung oft zu hören.
Bei Fortbildungen habe der Sozialwissenschaftler und Autor Stephan Marks erlebt, dass in Altenpflegeteams nicht über Scham gesprochen werde, obwohl gerade in der Altenpflege Scham tagaus tagein erlebt und gefühlt werde. Schlimmer noch: Es komme vor, dass Mitarbeitende, die im Kollegium von belastenden Erfahrungen berichteten, von Mitgliedern des Teams als "Weicheier" tituliert würden. Der Kommentar des Experten dazu: "Wenn wir Scham nicht zum Thema machen, verlieren wir alle." Stephan Marks geht es nicht darum, gewissermaßen die Scham abzuschaffen. Wesentliches Anliegen ist es, Scham produktiv zu machen.
Scham ein Tabuthema: Während des Fachtags der Diakonie RWL konnten sich die Teilnehmenden austauschen.
Menschenwürdig mit Menschen arbeiten
Scham hat viele Gesichter. Und kleinere oder größere Verletzungen der Menschenwürde gibt es in vielen Facetten. Stephan Marks stellt dazu fest: "Es ist erstaunlich, wie hartnäckig sich die Vorstellung hält, Menschen könnten dadurch verbessert werden, indem man sie beschämt." Angesichts dessen "menschenwürdig mit Menschen zu arbeiten" ist die Leitidee des Scham-Experten. Anerkennung, Schutz, Integrität und Zugehörigkeit bilden für Marks das "Mobile" der Menschenwürde.
Aus seinen Fortbildungen mit Angehörigen der helfenden Berufe weiß er: "Hilfe zu geben ist oft nicht möglich, weil wir selbst in beschämenden Systemen arbeiten." Räume zu schaffen, wo Scham gespeichert, aber nicht traumatisch wird, kann Abhilfe schaffen. Dazu gehören die Sorge für die eigene Würde ebenso wie die empathische, respektvolle Interaktion mit vulnerablen Gruppen.
Zu einer guten Beratung braucht es ein Taschentuch und ein Schokolädchen, sagt Susanne Flocke von der Wohnungslosenhilfe der Diakonie Köln.
Praktische Räume und Zeichen der Würde
Kann man schon im Hier und Jetzt kleinere, dennoch wichtige Hilfen für mehr Menschenwürde in der sozialen Arbeit geben? Susanne Flocke arbeitet bei der Wohnungslosenhilfe der Diakonie Köln und Region. Zu einer guten Beratung gehören für sie "ein Taschentuch und ein Schokolädchen". Ein typisch kölscher Tipp, den die Sozialarbeiterin parat hat, hilft sicher auch andernorts: "Eine der wichtigsten Eigenschaften der Sozialarbeit ist Humor, manchmal auch Galgenhumor oder schwarzer Humor."
Susanne Flocke ruft an, bevor sie die Klienten besucht, die sich oft für den Zustand ihrer Wohnung schämen. Vor allem, so beobachtet sie, schämen sich die Menschen, die dort lernen, wieder in ein bürgerlicheres Leben zu finden, für ihr Scheitern, ihr „Versagen“, den Verlust von Arbeit, Wohnung und Familie oder auch ihre Suchtkrankheit. Um dem Schamgefühl der Wohnungslosen etwas entgegen zu setzen, hat der Evangelische Kirchenkreis eine Spendenaktion ins Leben gerufen. Mit den gesammelten Geldern können die Bewohner sich auch einmal etwas Schönes gönnen – von Fußpflege bis zum Besuch des Hänneschen Theaters.
Scham kann auch strukturelle Ursachen haben, betont Diakonie RWL-Armutsexpertin Heike Moerland.
Scham, Rahmenbedingungen und Radikalisierung
Die Würde des Menschen ist verletzlich, wie Stephan Marks an vielen Beispielen deutlich machte. Es gilt, Räume der Würde zu schaffen. Für die Mitarbeitenden in der Sozialen Arbeit ergibt sich hieraus eine Art Selbstverpflichtung zum Umgang mit den Menschen, die als Rat- und Hilfesuchende zu ihnen kommen. Soziale Arbeit als Beziehungsarbeit bedarf der Reflexion über Scham und Würde, über Schutz und Integrität. Es ist wesentlich, die strukturelle Gewalt beschämender, entwürdigender, verletzender Systeme im sozialen und beruflichen Nahraum wie in der gesamten Gesellschaft von der Bildungslandschaft bis zum Gesundheitswesen zu überwinden.
"Nicht nur Menschen beschämen andere, sondern auch gesetzliche Rahmenbedingungen, wie zum Beispiel die Hartz IV-Gesetze und die Gestaltung von öffentlichen Räumen wirken beschämend", sagte Diakonie RWL-Armutsexpertin Heike Moerland zum Abschluss des Fachtags. "Besonders nachdenklich hat mich der Hinweis auf Scham als mögliche Ursache für Radikalisierung gestimmt. Hier sollten wir auch in Hinblick auf die gesellschaftlichen Tendenzen in Deutschland und ganz Europa genauer hinschauen."
Text: Reinhard van Spankeren, Fotos: Reinhard van Spankeren und Pixabay (Sliderfotos)
Buchtipp: Stephan Marks: Die Würde des Menschen ist verletzlich. Was uns fehlt und wie wir es wiederfinden, Patmos Verlag, 2. Auflage 2019.