7. Oktober 2019

Online-Beratung

Mehr Möglichkeiten als Grenzen

Die Digitalisierung der Arbeit ist in vollem Gange. In der sozialen Arbeit findet die Beratung allerdings meist noch face to face statt. Was kann digitale Beratung leisten und wo sind ihre möglichen Risiken? Ein Fachtag der Diakonie RWL gibt Antworten.

Manche Arbeitsfelder der Diakonie sind schon ziemlich weit auf dem Weg der Digitalisierung, auch wenn der Pflegeroboter in der Altenhilfe eher als Medienphänomen denn als neue Fachkraft am Pflegebett unterwegs ist. Aber wie geht, was kann und wem hilft Digitalisierung in der Beratung?

Das war die Ausgangsfrage zur Fachtagung "Beratung digital?! Möglichkeiten der Digitalisierung von Beratung" am 1. Oktober, die Heike Moerland eröffnete. Die Leiterin des Geschäftsfelds Berufliche und soziale Integration bei der Diakonie RWL stellte fest, dass es Online-Beratung in einzelnen Elementen schon seit 20 Jahren gibt, dass digitale Beratung andererseits noch in manchem aber auch Neuland, jedenfalls nicht die Regel sei.

Heike Moerland, Leiterin des Geschäftsfeldes Berufliche und soziale Integration der Diakonie RWL, bei der Eröffnung des Fachtages.

Beratung mit Unternehmergeist

Was hindert oder hemmt den Auf- und Ausbau der digitalen Beratung: Fehlt es an Willen? An Technik? An Finanzierung? Der offensichtliche Rückstand in sozialer und psychosozialer Beratung kann auch eine Chance sein, so Heike Moerland.

"Wir können noch aktiv dabei sein, wenn wir die Zukunft der Beratung 'erfinden' und entwickeln." Dazu bedürfe es allerdings eines langen Atems und eines innovativen Unternehmergeistes. Auf jeden Fall müsse die Qualität diakonischer Beratung erhalten bleiben.

"Statt von ‚Digitalisierung' sollte präziser von Technisierung des Sozialen gesprochen werden!" sagt Heinz Thiery von der Deutschsprachigen Gesellschaft für psychosoziale Onlineberatung (DGOB).

Technisierung des Sozialen

Geht es wirklich um "Digitalisierung"? Heinz Thiery, der sich professionell und seit Jahren mit neuen Formen der Beratung als Vorstandsmitglied der Deutschsprachigen Gesellschaft für psychosoziale Onlineberatung befasst, zieht es vor, von "Technisierung des Sozialen" oder auch "telemedialer Kommunikation" zu sprechen.

Zentral sei die Überwindung synchroner Kommunikation. Dies habe im Grunde schon die klassische Telefonseelsorge gemacht, die in diesen Tagen mancherorts ihr 60-jähriges Jubiläum feiert. Die klassische face-to-face-Beratung finde zeitgleich, am gleichen Ort, synchron, und unmittelbar statt, sie setze auf Stimme, Gestik, Mimik und nicht zuletzt auf den Faktor Licht und Luft, so Thiery . Die Beratung mittels Video, Chat, Mail oder Forum erfolge räumlich getrennt und sei eher mittelbar-simultan. "Neu sind nur die technischen Medien", betont Experte Thiery. Die Grundprinzipien guter Beratung blieben gleich.

Tweet: Wir denken #digitaleBeratung und tauschen uns aus über die Online-Beratung in der Jugendhilfe, Jugendmigration, der Suchthilfe, im Video-Dolmetschen und den ethischen Perspektiven der Digitalisierung von Beratung.

Zeitgenössischer Zugang

Online-Beratung ist für Thiery keine alternative Methode, sondern ein zeitgenössischer Zugang zu Beratungsleistungen in einem alternativen organisationalen Setting. Online-Beratung dürfe nicht als Umweg in die "echte", persönliche Beratung angesehen werden, meint er. Ein großer Vorteil der Online-Beratung liege darin, dass sie den Ratsuchenden ermögliche, ihre persönlichen Kommunikationsvorlieben zu nutzen.

In die eigene Lebenssituation, etwa eine multilokale Lebensweise, sei Online-Beratung gut integrierbar. Besser als sonst sei anonyme Beratung möglich. Die telemediale Beratung emanzipiere geradezu die Ratsuchenden, die so selbstbewusster als üblich auftreten könnten. Erfolge Online-Beratung schriftlich, erhöhe das die Selbstaufmerksamkeit und gebe den Fachkräften auch die Möglichkeit, ihre Beratungen besser zu reflektieren. Die Kluft zwischen Hilfesuchenden und Hilfeleistenden sei allerdings – wie in jeder Beratungssituation - letztlich unüberbrückbar.

Beratung ist immer riskant

"Jede beratende oder therapeutische Einwirkung ist riskant", hielt Heinz Thiery fest. Die Diskussion über Online-Beratung werde teilweise medientheoretisch unterbelichtet geführt, kritisierte der Experte. Vielleicht stimme das alte Vorurteil über die Technikabstinenz der Mitarbeitenden in der sozialen Arbeit noch. Allerdings dürfe man die Online-Beratung auch nicht mit übertriebenen Ansprüchen überfordern, wenn man ihr etwa zumute, Auswüchsen der aktuellen Kommunikation in den Sozialen Medien entgegen zu arbeiten.

Digitale Teilhabe?

Wie steht es mit Ratsuchenden, die nicht einmal lesen und schreiben können? Werden sie bei digitaler Beratung noch mehr abgehängt? Was ist mit den oft älteren Menschen, die nicht den ganzen Tag in den Netzwelten unterwegs sind, denen allein schon die Handhabung der Geräte Schwierigkeiten bereitet? Und die Frage nach dem Schutz der persönlichen Daten, etwa auch der Gesundheitsdaten?

Auf solche kritischen Fragen aus dem Publikum entgegnete Thiery, dass Online-Beratung als ein ganz normales Angebot neben der "klassischen" Offline-Beratung angesehen werden sollte. Und er betonte, dass sich die Klienten in der Diakonie immer darauf verlassen können, dass ihre Anliegen absolut vertraulich behandelt werden.

Die Jugendmigrationsdienste beraten über 7.000 User online zu Schule, Ausbildung, Arbeit, Sprachkurse und wie man über Sport und das Ehrenamt Menschen kennenlernt.

Digitales Buffet

Bei der Fachtagung kooperierte die Diakonie RWL mit dem Transfernetzwerk Soziale Innovation s_inn, einem Verbundprojekt der Katholischen Hochschule NRW und der Evangelischen Hochschule Rheinland-Westfalen-Lippe. Gute Beispiele für digitale Beratung, die es an manchen Orten bereits gibt, präsentierten sich mit einem "Digitalen Buffet".

So konnte man etwa Appetithäppchen zur Online-Beratung in der Jugendhilfe, in der Suchthilfe oder bei den Jugendmigrationsdiensten probieren. Deutlich wurde, dass technisch handhabbare, einfach zu nutzende, datenschutzrechtlich sichere und finanzierbare Systeme gefunden und in Kooperation gemeinsam entwickelt werden müssen.

Zur ethischen Perspektive und den Chancen der Digitalisierung  von Beratung waren Prof. Dr. Dr. Sigrid Graumann (r.), Rektorin der  Ev. Hochschule RWL in Bochum, und Heidrun Schulz-Rabenschlag (l.), Fachbereichsleitung Soziale Dienste der Diakonie Mark-Ruhr, Gastrednerinnen beim Fachtag. 

Ethische Fragen und Fragen der diakonischen Unternehmensführung

Was ist gute Beratung aus ethischer Sicht? Diese Grundfrage müsse man wie an jede Beratung auch an Online-Beratung stellen, so die These von Sigrid Graumann, die an der Evangelischen Hochschule Bochum Ethik lehrt, dort als Rektorin amtiert und etwa auch im Deutschen Ethikrat engagiert ist. Vier mittlere Prinzipien sind ihrer Ansicht nach zu beachten: Autonomie, etwa mit der Befähigung zu Selbstverantwortung, Nicht-Schädigung, etwa durch die Achtung von Persönlichkeitsrechten, Wohltätigkeit mit der Frage nach gutem, gelingendem Leben und schließlich Gerechtigkeit, was etwa bedeute, dass der Zugang zu jeder Beratung niedrigschwellig sein müsse.

Aus der Sicht eines diakonischen Unternehmens betonte Heidrun Schulz-Rabenschlag von der Diakonie Mark-Ruhr: "Die Digitalisierung legt den Fokus noch einmal auf die Grundsätze unserer Arbeit." In diakonischen Werken und Unternehmen könne Digitalisierung nicht einfach obendrauf gepackt werden, sondern müsse verknüpft werden mit Leitbildentwicklung, Strategieentwicklung und Personalentwicklung.

Von l. nach r.: Heidrun Schulz-Rabenschlag (Fachbereichsleitung Soziale Dienste bei der Diakonie Mark-Ruhr), Prof. Dr. Dr. Sigrid Graumann (Rektorin der Evangelischen Hoschule RWL in Bochum) und Heike Moerland (Expertin für Berufliche und soziale Integration der Diakonie RWL).

Wenn die Technik funktioniert…

"Das Funktionieren schaltet das Räsonieren über Technik aus. Wenn es funktioniert, dann funktioniert es." Das schreibt der Münchner Soziologe Armin Nassehi in seiner "Theorie der digitalen Gesellschaft". Der diakonische Fachtag räumte der technikgestützten Beratung viele Chancen ein. Deutlich wurde aber auch, dass zum Wohl von Rat- und Hilfesuchenden über manche Grenzen des technisch vielleicht Machbaren ethisch, professionell und praktisch "räsoniert" werden muss.

Text: Reinhard van Spankeren, Fotos und Video: Christoph Bürgener

Ihr/e Ansprechpartner/in
Heike Moerland
Geschäftsfeld Berufliche und soziale Integration
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