21. Juni 2022

Arbeitslosenreport NRW

Gleiche Förderung? Fehlanzeige

Im Dreieck von Arbeitgeber, Kindergarten und Jobcenter bleiben Frauen oft auf der Strecke. Die Folge: Langzeitarbeitslosigkeit. Das Teilhabechancengesetz als Förderinstrument soll helfen. Doch nur ein Drittel der Geförderten sind Frauen. Das CJD Dortmund setzt auf flexible Arbeitszeitmodelle und viel Verständnis, um das zu ändern.

  • Sieben Frauen mit unterschiedlichen Hautfarben stehen gegen Diskriminierung auf
  • Frau steht vor einer Tafel, hinter ihr sind muskuläre Arme aufgezeichnet

Sandra Müller (Name geändert) hat sich einen Ruf aufgebaut. Jeder im CJD Dortmund kennt ihre Dips. "Die sind meine Spezialität. Mein Geheimnis: Ich spare nicht am Knoblauch", sagt die 42-Jährige mit einem Augenzwinkern. Seit drei Jahren arbeitet die ausgebildete Beiköchin beim Sozial- und Bildungsunternehmen in Trägerschaft des Christlichen Jugenddorfwerkes Deutschland (CJD). Für sie und auch fürs CJD ist das ein echter Glücksfall. Acht Jahre lang war die dreifache Mutter arbeitssuchend, bevor sie im Rahmen des Teilhabechancengesetzes angestellt wurde. "Sandra Müller ist eine unserer zuverlässigsten Mitarbeiterinnen", lobt Sina Meißner, Angebotsleiterin beim CJD. "Sie ist sehr engagiert. Wenn wir am Wochenende das Catering für eine Hochzeit übernehmen, ist sie die erste, die anbietet, zu arbeiten."

Alles was Sandra Müller brauchte, war eine Chance – und ein wenig mehr Unterstützung, als sie reguläre Arbeitsstellen normalerweise bieten. Rund 16.000 langzeitarbeitslose Menschen in Nordrhein-Westfalen haben allein im Januar vom Teilhabechancengesetz profitiert. Ihre Stellen werden im Rahmen des seit 2019 gültigen Gesetzes fünf Jahre lang staatlich gefördert. In den ersten beiden Jahren zu 100 Prozent, in den Jahren danach zu 90 bis 70 Prozent. Zusätzlich werden die ehemaligen Langzeitarbeitslosen gecoacht und können sich weiterbilden. Sandra Müller möchte zum Beispiel ihren Führerschein machen. Damit hat sie nach den fünf Jahren beim CJD bessere Aussichten, bei einem Cateringunternehmen eine Stelle zu finden. "Den Menschen wird durch das Teilhabechancengesetz eine echte Chance gegeben", erklärt Sina Meißner. Das Problem dabei: Diese Chance wird vor allem deutschen Männern gewährt. Frauen und Menschen ohne deutsche Staatsbürgerschaft sind unterrepräsentiert.

Junge Köchin beugt sich über Pfanne mit Gemüse

Nicht alles muss sofort klappen: Die Gatsronomie ist eine stressige Branche. Beim CJD Dortmund nimmt das komplett weibliche Küchenteam aufeinander Rücksicht.

Teilzeit und Verständnis

Obwohl mehr als die Hälfte der Langzeitarbeitslosen Frauen sind, sind sie bei der Förderung nur mit einem Drittel vertreten. Das zeigt der aktuelle Arbeitslosenreport der Freien Wohlfahrtspflege NRW. Das Teilhabechancengesetz soll Menschen, die lange ohne Arbeit waren, gezielt und möglichst individuell unterstützen.

Doch bei Frauen, besonders bei Müttern mit jüngeren Kindern, klappt das zu selten, beobachtet Sina Meißner: "Arbeitgeber sind oft wenig flexibel. Wer eine alleinerziehende Mutter beschäftigt, muss Hilfestellungen geben. Und zwar andere als bei einem Single-Mann." Genau das macht das CJD. Sandra Müller hat zunächst in Teilzeit gestartet, seit einigen Wochen arbeitet sie in Vollzeit. "Aufzustocken oder auch wieder Stunden zu reduzieren, ist bei uns gar kein Problem", so Meißner. Auch wenn eines ihrer Kinder krank wird, kann die Beiköchin zu Hause bleiben, ohne Sorge haben zu müssen, dass sie damit ihren Arbeitsplatz gefährdet. "Hier nehmen sie Rücksicht auf mich", sagt Sandra Müller. "Wenn ich mal einen Fehler mache, reißt mir keiner den Kopf ab. Alle sind sehr verständnisvoll."

Sina Meißner, Angebotsleiterin beim CJD Dortmund

Zu wenig Förderung für Frauen: Angebotsleiterin Sina Meißner erlebt immer wieder, dass Mütter durch das Raster des Jobcenters fallen.

Beruflich durchstarten

Bei vielen Müttern, die beim CJD im Rahmen des Teilhabechancengesetzes beschäftigt sind, gibt es den Wunsch nach Selbstwirksamkeit. "Wenn die Kinder älter sind, entsteht bei vielen der Wunsch, beruflich durchzustarten. Sie sagen sich: Jetzt mache ich etwas für mich selbst, außerhalb der Familie", sagt die Angebotsleiterin. Sie kritisiert, dass in vielen Jobcentern die Frauen nicht richtig gehört würden. Mit kleineren Kindern fielen sie oft durch das Raster. "Es braucht mehr Anlaufstellen und Pädagog*innen. Wir machen die Erfahrung, dass am Anfang auch bei alltäglichen Dingen wie Post vom Finanzamt Unterstützung nötig ist. Das hat zwar nichts mit dem Job zu tun, ist aber wichtig, damit die Frauen dranbleiben", erklärt Meißner.

Das Sozialunternehmen ist es gewohnt, Menschen zu fördern und pädagogisch zu unterstützen. Sina Meißner kennt ihre Mitarbeitenden und könnte ihnen nach fünf Jahren im Teilhabechancengesetz dabei helfen, Bewerbungen zu schreiben und sie in neue Stellen zu vermitteln. Stattdessen übernimmt das Jobcenter, die individuelle und persönliche Betreuung durch den Arbeitgeber bricht weg. "Das ist schade, denn die Menschen vertrauen uns, beim Jobcenter ist es natürlich distanzierter", sagt die Angebotsleiterin.

Marc Nottelmann, Diakonie RWL-Referent für berufliche Integration

Der Gesetzgeber muss gerechte und angemessene Bezahlung für alle gewährleisten, fordert Marc Nottelmann, Diakonie RWL-Referent für berufliche Integration.

Teilhabechancengesetz greift zu spät

Auch die späte Förderung sei ein Problem, findet Marc Nottelmann, Referent für Arbeitsmarktpolitik bei der Diakonie RWL. "Warum müssen Menschen erst sechs Jahre arbeitslos sein – und das innerhalb der vergangenen sieben Jahre – um vom Teilhabechancengesetz zu profitieren?" Bei vielen habe sich die Arbeitslosigkeit dann bereits verfestigt. "Damit das Instrument wirkt, muss es flexibel bleiben und auf die individuelle Situation der Menschen angepasst werden. Angebote wie Sprachkurse, Teilzeit oder Kinderbetreuung müssen selbstverständlich dazugehören", fordert Marc Nottelmann.

Das Teilhabechancengesetz hat Potential und wirkt. Das beweist Sandra Müller. Sie hat in den letzten drei Jahren einen langen Weg zurückgelegt. Sie ist selbstbewusster, strukturierter und offener geworden. Jetzt ist sie bereit, durchzustarten.

Text: Ann-Kristin Herbst, Fotos: Shutterstock, privat

Weitere Informationen

Langzeitarbeitslosigkeit
Im Mai 2022 gab es in NRW 298.772 Langzeitarbeitslose. Ihr Anteil lag damit bei 46,8 Prozent an allen Arbeitslosen. Gegenüber dem Vorjahresmonat ist die Zahl der Langzeitarbeitslosen um 11,1 Prozent gesunken. Als langzeitarbeitslos gelten Personen, die ein Jahr und länger arbeitslos gemeldet sind. Weil die Dauer der Arbeitslosigkeit jedoch unter anderem nach der Teilnahme an einer Maßnahme wieder von vorn gezählt wird, ist das Ausmaß der Langzeitarbeitslosigkeit deutlich höher als die offiziellen Zahlen.