Inklusion - Gute Beispiele
Stefanie Kloos-Kramer
Im Wartezimmer Ihrer Beratungsstelle treffen Menschen mit und ohne Behinderung direkt aufeinander. Klappt das immer reibungslos?
Bereits seit acht Jahren biete ich pro Woche fünf Beratungsstunden für Menschen mit geistigen Behinderungen aus den Einrichtungen der Lebenshilfe in Wetzlar und Weilburg an. In dieser Zeit habe ich noch nie erlebt, dass es zu großen Berührungsängsten oder Konflikten zwischen unseren Klienten gekommen ist. Menschen mit Behinderung leiden unter ähnlichen Problemen wie Menschen ohne Behinderung. Daher sollten sie das gleiche Recht auf eine therapeutische Beratung haben. Allerdings zeigen sie ihre Gefühle und wie es ihnen gerade geht sehr viel deutlicher, was sich ab und an im Wartezimmer bemerkbar machen kann.
Wie sieht das dann aus?
Es gibt Klienten, die ganz aufgewühlt und aufgeregt hereinkommen. Wenn sie wütend sind, zeigen sie es genauso offen wie wenn sie traurig sind. Manche verhalten sich still und schüchtern, wieder andere führen Zwiegespräche mit sich selbst. Aber unser Team ist darauf eingestellt und kann gut damit umgehen. Wir haben auch alle einen Erste-Hilfe-Kurs gemacht, damit wir wissen, wie wir zum Beispiel mit einem epileptischen Anfall umgehen sollten. Trotzdem empfinde ich die therapeutische Arbeit mit den geistig behinderten Menschen als große Bereicherung. Als unsere Beratungsstelle im Jahr 2008 von der Lebenshilfe gefragt wurde, ob wir uns vorstellen können, ein therapeutisches Beratungsangebot für die Menschen aus den Einrichtungen der Lebenshilfe anzubieten, war ich sofort begeistert.
Warum kommen diese Menschen zu Ihnen?
Sehr häufig geht es um Konflikte am Arbeitsplatz, aggressives Verhalten und mangelnde Impulskontrolle. Auch Beziehungsprobleme zwischen den Mitgliedern einer Wohngruppe, mit dem Lebenspartner oder den Eltern spielen eine Rolle. In der Regel kommen die Klienten zunächst gemeinsam mit ihrem Betreuer oder einem Familienmitglied zu uns. Danach besuchen sie die Sitzungen alleine. Da die allermeisten Menschen mit Behinderung in einem engmaschigen Betreuungssystem leben, ist es für mich wichtig, das im Blick zu behalten. Wenn sich der Klient durch die regelmäßigen Beratungsgespräche verändert, bedeutet das immer auch eine Veränderung für das soziale Umfeld. Insofern hole ich auch gerne hin und wieder Betreuer, Eltern, Familienangehörige oder Partner dazu.
Wie lange dauert die Beratung in der Regel?
Manchmal reichen zwei Gespräche, um ein Problem zu klären. Oft dauert es aber deutlich länger, denn um einen guten Zugang zu diesen Klienten zu bekommen, muss Vertrauen wachsen. Im Durchschnitt kommen sie ein halbes Jahr lang in unsere Beratungsstelle. Meistens findet alle zwei Wochen ein Gespräch statt. Pro Jahr bearbeite ich rund 30 Fälle.
Worin liegt für Sie als Beraterin die besondere Herausforderung?
Auch nach acht Jahren ist für mich noch jede Beratung wie eine Schatzkiste, die sich langsam öffnet. Viele können nicht erklären, warum es ihnen schlecht geht oder ihr Verhalten gründlich reflektieren. Daher muss ich sehr auf die Körpersprache achten und immer anschaulich und erlebnisorientiert arbeiten. Ich setze zum Beispiel einen Kummerkasten ein, in den Sorgen und Probleme - symbolisiert durch Steine oder Muscheln – abgelegt werden können. Häufig lasse ich die Klienten ihre Gefühle auch in Bildern ausdrücken, denn die meisten malen sehr gerne. Wenn ich danach frage, was sie in ihrem Leben verändern wollen oder welches Ziel sie haben, skizziere ich alles gemeinsam mit ihnen auf einem Flipchart. Rituale spielen auch eine große Rolle. Eine Sitzung sollte möglichst mit der gleichen Eingangsfrage beginnen und wiederkehrende Elemente enthalten, denn das gibt Sicherheit und schafft Vertrauen.
Sie müssen vermutlich viel erspüren, erfragen und eine Menge Geduld mitbringen. Kann man das lernen?
Aus dem Lehrbuch sicherlich nicht. Als ich vor acht Jahren mit dieser Arbeit anfing, gab es kaum Materialien und vergleichbare Angebote für die psychologische Beratung mit erwachsenen geistig behinderten Menschen. Es war daher ein "Learning by doing". Inzwischen weiß ich, dass die Ursache vieler Verhaltensauffälligkeiten Reaktionen auf Umbrüche oder Verlusterfahrungen sein können, die teilweise auch länger zurückliegen. Menschen mit Behinderung leben oft noch sehr isoliert. Die Werkstatt oder Wohngruppe ersetzt häufig die Familie. Wenn eine Betreuerin in Elternzeit oder ein Betreuer in Rente geht, dann kann dies eine massive Verlusterfahrung sein. Nicht selten erinnert dieser "Verlust" unbewusst an den Tod der eigenen Eltern und löst Trauer und Wut aus.
Was nehmen Ihre Klienten aus der Beratung mit?
Vor allem lernen sie, sich selbst mehr wertzuschätzen und ihre eigenen Kraftquellen zu entdecken. Das können Entspannungs- oder Atemübungen sein, die sie hier erlernen, oder Anregungen für schöne Freizeiterlebnisse wie in die Eisdiele zu gehen. Viele erleben eine starke Abhängigkeit von ihren Betreuern und ihrer Familie, die zu Unzufriedenheiten und Spannungen führen können. Es tut ihnen gut, sich in der Beratung einfach etwas vom Herzen zu reden. Ich bin an die Schweigepflicht gebunden und gebe daher nichts weiter.
Übrigens ist es für mich auch selbstverständlich, meine Klienten zu siezen. Damit zeige ich ihnen, dass ich sie respektiere und wertschätzend als Erwachsene wahrnehme. Das erleben meine Klienten häufig anders. Wenn sie mir sagen "Ich kann das nicht, ich bin doch behindert", unterstützte ich sie dabei, diese alten Verhaltensmuster zu verändern und schaue verstärkt auf das, was gut läuft und nicht auf die Defizite. Auch Menschen mit Behinderung haben viele Ressourcen und innere Schätze. Diese gemeinsam mit ihnen zu entdecken, macht mir sehr viel Freude.