20. Juli 2016

Inklusion – Gute Beispiele

Theaterwerkstatt Bethel: Vielfalt ist spannend

Seit über 30 Jahren kommen in der Theaterwerkstatt Bethel Menschen mit und ohne Behinderung, Akademiker und Arbeitslose zusammen. Gemeinsam entwickeln sie Stücke und bringen sie auf die Bühne. Ihre vielfältigen Erfahrungen in der inklusiven Theaterarbeit werden jetzt sogar in einer neu gegründeten Akademie erforscht und für andere Projekte aufbereitet.

Matthias Gräßlin mit ausgestrecktem Arm bei der Probe

Szenenprobe mit Leiter Matthias Gräßlin

Nur noch ein paar Minuten bis zur Aufführung. "Ihr müsst sofort auf Zack sein, wenn ihr auf der Bühne seid", schwört Ko-Regisseurin Katrin Nowak die Schauspieler ein. Schnell noch den Rock zurechtzuppeln, tief durchatmen. Jemand kichert nervös. Dann geht es los: Die Musik setzt ein, die Zuschauer betreten den Raum, das Spiel beginnt. "Der Schnee brennt" heißt das Stück, das das Volxtheater der Theaterwerkstatt Bethel an diesem Abend aufführt. Es geht um "Wahnsinn" in unterschiedlichen Facetten, um Alltagsrassismus, Datenmissbrauch, Terror, sexualisierte Gewalt.

Immer wieder setzt sich die Theaterwerkstatt Bethel in ihren Projekten mit aktuellen Fragen auseinander und zeigt, was Menschen bewegt - intensiv, verstörend, anrührend, experimentell. Und auch das ist besonders: die Mitwirkenden entwickeln alle Produktionen selbst. Die Stücke entstehen aus den Gruppen heraus. "Es gibt keine Vorgaben, kein Richtig oder Falsch", sagt Leiter Matthias Gräßlin. Nur ein behutsames Begleiten beim Experimentieren und Ausprobieren.

Ein Theaterstück, das "knallt"

Wie das abläuft, wird bei einem Besuch einer Volxtheaterwerkstatt in der Alten Klempnerei in Bielefeld-Bethel deutlich. Eine bunt zusammengewürfelte Gruppe trifft sich zum ersten Mal in dem alten Backsteingebäude, in dem das Theater zu Hause ist, und arbeitet zum Thema "Menschenwürde". Ein Professor steht im Kreis neben einem Bethel-Bewohner, ein junger Manager neben einem Rentner. Was versteht der Professor unter Menschenwürde? Was sagt ein Mensch mit Handicap?

Gebäude der Theaterwerkstatt Aussenansicht

Lauschiger Ort der Kreativität: die Theaterwerkstatt

Unterschiedliche Lebenserfahrungen prallen aufeinander, jeder bringt seine Ideen und Ansichten ein. Aus diesem "Material", wie Gräßlin es nennt, entstehen erste Entwürfe und Szenen, die in den nächsten Wochen und Monaten zu einer aufführungsreifen Performance wachsen. "Zu einem Produkt, das am Ende knallt."    

Unsicherheiten überwinden

Mitja Brinkkötter hat schon bei mehreren Projekten mitgemacht und findet es immer wieder "spannend, wie sich die Themen entwickeln". Anregend sei das, sagt der 35-Jährige, der als Informatiker an einem ausgelagerten Arbeitsplatz in Bethel tätig ist. "Ich muss nichts auswendig lernen und lerne immer wieder neue Leute kennen."

Für Elektroingenieur Bernold Rix ist die Theaterwerkstatt Bethel ein Eintauchen in eine kreative Welt. Auch Rentnerin Sigrid Polanski schätzt den künstlerischen Freiraum und hat bei der Theaterarbeit zudem ihre Unsicherheit behinderten Menschen gegenüber verloren. "Wir gehen ganz locker und offen miteinander um", sagt die Volxtheater-Schauspielerin.

Daniel Rimmert mit erhobener Hand und aufgerissenem Mund

Tanzpädagoge Daniel Rimmert in Aktion

Dabei sollen die Unterschiede zwischen den Menschen keineswegs verwischt, sondern bewusst anerkannt werden. "Jeder hat seine eigenen Grenzen, jeder bringt seine eigene kleine Behinderung mit. Das befruchtet uns im Spiel und verführt uns zu den Stücken, die wir spielen", sagt Daniel Rimmert, der als Tanz- und Bewegungspädagoge die Schauspieler unterstützt. Matthias Gräßlin fasst den Begriff Inklusion noch radikaler: "Für mich geht es nicht darum, Randgruppen einzubinden, sondern um die Vision einer Gesellschaft der Vielfalt."

Volxakademie erforscht inklusive Theaterarbeit

Die Theaterwerkstatt ist für den Träger, die von Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel, darum ein gutes Beispiel, wie Inklusion gestaltet werden kann, und das seit mehr als 30 Jahren. Gegründet wurde die Einrichtung 1983 von der Theaterpädagogin Else Natalie Warns. Seit 1994 ist Matthias Gräßlin Leiter des freien Theaters, in dem jährlich bis zu 800 Menschen mitwirken, vom Workshop bis zur großen Volxtheater-Produktion. 

Portrait

Ein "alter Hase" im Theaterspiel: Martin Psiorz

Die Erfahrungen mit der inklusiven Theater- und Kulturarbeit werden jetzt auch in einer neu gegründeten "Volxakademie" reflektiert, ausgewertet und erforscht. Gefördert wird das bundesweit einzigartige Angebot drei Jahre lang von der Kulturstiftung des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe. Die offizielle Eröffnung ist im August. Ziel der Akademie ist es, Interessierte und Kulturschaffende mit und ohne Behinderung zu beraten und ihnen eine Möglichkeit zum Austausch über ihre Arbeit zu geben. Auch "Der Schnee brennt" wird so vielleicht noch einmal überdacht.

Die Bühne macht "groß und stark"

Die Aufführung in Bielefeld nähert sich langsam dem Ende. Noch einmal rocken die Akteure wild und ekstatisch über die Bühne. "Das macht mir tierischen Spaß", sagt Ralf Strehl. Im Alltag arbeitet er auf einem Integrationsarbeitsplatz in der Fahrradmontage und hat in dem Stück seinen ersten großen Auftritt. Martin Psiorz ist dagegen ein alter Hase. Seit 24 Jahren spielt der Mann mit Lernschwierigkeiten im Ensemble der Theaterwerkstatt Bethel, die er sogar als sein "zweites Zuhause" bezeichnet.

Souverän singt der 50-Jährige an diesem Abend vor vielen Zuschauern ein Solo. "Und das Komische ist", sagt er: "Kaum stehe ich auf der Bühne, ist das Stottern weg." Vielleicht liegt es daran, dass er sich auf der Bühne angenommen und aufgehoben fühlt. Oder wie es ein anderer Spieler sagte: „Das Theater macht mich groß und stark.“

Text und Fotos: Silke Tornede

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