Diakonie gegen Armut
Bianca Ladwig (links) diskutiert mit Fred Müller, Torsten Schlink und Perry Walczak
Eines stellt Jutta Ehlers gleich zu Beginn des Gesprächs klar: Behindert heißt nicht automatisch arm sein. Dieser Punkt ist ihr ganz wichtig. Auch Menschen mit Handicap haben gute Jobs, verdienen Geld, können etwas. Nüchtern betrachtet sind sie dennoch überdurchschnittlich oft auf existenzsichernde Leistungen vom Staat angewiesen.
Sie sind häufiger von Arbeitslosigkeit und Armutsrisiken betroffen als Menschen ohne Beeinträchtigungen, wirft Bethel-Ortschaftsreferent Fred Müller ein. Was es heißt, von Sozialhilfe zu leben, beschreibt Bianca Ladwig. "Arm ist relativ", schickt auch sie voran. Natürlich gehe es ihr besser als vielen anderen Menschen auf der Welt. Auf der anderen Seite mus sie "ganz schön knapsen", um sich mal eine Theater- oder Kinokarte zu leisten.
Richtig eng wird es, wenn unvorhergesehene Ausgaben anstehen. Ein Beispiel: Im vergangenen Jahr entschied sich der Chor, in dem sie singt, für neue Kleidung. Ihr erster Gedanke war: "Wie bekomme ich das bloß gestemmt?" Den Chorleiter anzusprechen, kam für sie nicht infrage. Auch das Hilfsangebot von Freunden wollte sie nicht annehmen. "Das ist einem unangenehm." Gleichzeitig wusste sie, dass sie mit dem Kauf der neuen Bluse auf viele andere Dinge verzichten muss. Das kratzt am Selbstbewusstsein und "macht ziemlich viel kaputt", findet die 41-Jährige, die aufgrund einer psychischen Erkrankung arbeitsunfähig ist.
"Wir wollen kein Mitleid", betont Anton Bals
Überall Grenzen im Alltag
"Wir wollen kein Mitleid", betont Horst-Wilhelm Stelten. Doch wie kann ein Umgang auf Augenhöhe aussehen, fragt sich Anton Bals: "Da sprechen alle großschweifig von Inklusion und Integration", sagt er. Aber bei den kleinsten Dingen erleben Menschen mit Behinderung ihre Grenzen. Diese Grenzen durch den engen finanziellen Rahmen nerven auch Perry Walczak. Der 47-Jährige lebt in einer barrierefreien Wohnung, bekommt Eingliederungshilfe und Unterstützung, das erkennt er an. Aber mit seinem kleinen Budget sei es zum Beispiel schwer, etwas zusätzlich für die Gesundheit zu tun oder Bioprodukte zu kaufen. "Ich bin gezwungen, billig einzukaufen, obwohl ich ein ganz anderes Bewusstsein habe."
Und die Lösung? "Ein bedingungsloses Grundeinkommen wäre ein Weg, um aus dem Teufelskreis der Sozialhilfe herauszukommen", sagt Perry Walczak. Die Stammtisch-Gruppe macht sich für diese Forderung genauso stark wie für kleine Veränderungen.
Kämpferisch und selbstbewusst: Annette Fuhrmann hat den Stammtisch gegründet
Selbstbestimmt statt fremdbestimmt
"Wir kämpfen zum Beispiel auch dafür, dass die Zuzahlungen für Rezepte in Apotheken nicht so hoch sind", sagt Annette Fuhrmann. Oder sie weisen auf die 28,80 Euro Gebühr hin, die für einen neuen Personalausweis gezahlt werden muss. "Für Menschen, die nur ein Taschengeld bekommen, ist das viel Geld."
"Nicht ohne uns über uns!" Dieser Grundsatz der UN-Behindertenrechtskonvention war für Bethel-Bereichsleiterin Annette Fuhrmann 2003 der Auslöser, den Stammtisch ins Leben zu rufen. Behinderte Menschen sollen selbstbestimmt und nicht fremdbestimmt ihr Leben gestalten können, so lautet der Anspruch der Gruppe bis heute. Die rund 30 Frauen und Männer treffen sich regelmäßig in unterschiedlichen Begegungszentren der von Bodelschwinghschen Stiftungen in Bielefeld.
"Die Teilnehmer werden immer selbstbewusster und reden auch öffentlich über ihre Anliegen", beobachtet Annette Fuhrmann. Die Gruppe war zum Beispiel im Landtag, hat dem Oberbürgermeister der Stadt die Meinung gesagt, und wird auch vor der Bundestagswahl den Kandidaten Forderungen und Wünsche mit auf den Weg geben.
Das Bundesteilhabegesetz sorgt für intensive Diskussion
"Wir bleiben am Ball"
Intensiv haben sich die Frauen und Männer auch mit dem Bundesteilhabegesetz (BTHG) beschäftigt, das seit Jahresbeginn stufenweise umgesetzt wird. Lohnt es sich, Geld zu sparen? Wie ist es mit der Rente? Lässt das Gesetz es zu, dass ich in meiner Wohnung bleibe, auch wenn ich immer pflegebedürftiger werde? Kritisch sehen sie zum Beispiel, dass Menschen mit Behinderungen bestimmte Unterstützungsleistungen gemeinsam mit anderen in Anspruch nehmen sollen. Das spare vielleicht Geld, schränkt aber die Selbstbestimmung der Betroffenen ein und bringt möglicherweise Menschen, die heute selbständig mit Assistenz leben, wieder zurück ins Heim - allein aus Kostengründen.
Große Erwartungen haben Bianca Ladwig und Perry Walczak an die Peer-Beratung, die das BTHG vorsieht. Beide wollen sich in diesem Bereich ausbilden lassen und dann andere Betroffene mit ihren Erfahrungen unterstützen. Unklar sei allerdings, ob es für diese Tätigkeit Geld gibt. "Es wäre gut, dafür bezahlt zu werden", finden beide. Und Annette Fuhrmann versichert: "Auch da bleiben wir am Ball."
Text und Fotos: Silke Tornede