Behindertenhilfe
Martin Weißenberg
An das neue Bundesteilhabegesetz, das 2017 stufenweise in Kraft treten soll, haben Sozialverbände große Erwartungen geknüpft. Nun verzögert sich die Einleitung des Gesetzgebungsverfahrens. Wird dies als schlechtes Zeichen für eine echte Veränderung hin zu mehr Autonomie für Menschen mit Behinderung gewertet?
Ja, das wird es. Denn es zeigt, dass die Politik uneinig über die Ausgestaltung der dringend notwendigen Reform der derzeitigen Behindertenhilfe ist. 2013 und 2014 sollten noch vier Milliarden Euro an Bundesmitteln in das Bundesteilhabegesetz fließen. Diese Gelder sind nun nicht mehr für die Eingliederungshilfe bestimmt. Es sollte auch ein Bundesteilhabegeld von 400 Euro monatlich für jeden Menschen mit Behinderung eingeführt werden, mit dem er sich Hilfsleistungen kaufen kann. Auch das ist vom Tisch. Es fließt also weniger Geld ins System als ursprünglich versprochen. Gleichzeitig steigt die Zahl der Menschen mit Behinderungen. Allein im Landschaftsverband Westfalen-Lippe haben wir in den letzten Jahren eine jährliche Zunahme von drei Prozent an Menschen mit Behinderungen, die auf staatliche Unterstützung angewesen sind.
Ein entscheidender Punkt des Gesetzes ist die Herauslösung der Eingliederungshilfe aus dem Sozialhilferecht. Sie soll für die bundesweit rund 700.000 Menschen mit Behinderung, die sie erhalten, zu einer individuellen Leistung umgestaltet werden. Wie soll das nun gehen?
Bislang erhalten Menschen mit Behinderungen ja Geld von verschiedenen Sozialhilfeträgern Wer in einer Werkstatt arbeitet, bekommt in der Regel Grundsicherung oder eine Erwerbsminderungsrente und ein Arbeitsentgelt aus der Werkstatt, das aber kein Lohn ist, von dem man leben könnte. Je nachdem, wo ein Mensch mit Behinderung wohnt, bekommt er noch eine Grundsicherung für betreutes Wohnen. Jetzt werden diese Leistungen an vielen Stellen modularisiert, d.h. es wird stärker danach geschaut, wer welche Leistungen braucht und dabei auch Barrieren im baulichen und sozialen Umfeld in den Blick genommen, nicht nur die individuelle körperliche oder seelische Beeinträchtigung. Das wird ein echter Paradigmenwechsel.
Zu einem selbstbestimmten Leben gehört für viele Menschen mit Behinderungen auch eine Arbeitsstelle. Nach wie vor sind die meisten in Werkstätten beschäftigt statt auf dem regulären Arbeitsmarkt. Kann das Bundesteilhabegesetz daran etwas ändern?
Davon ist nicht auszugehen, denn dafür müsste sich unsere Arbeitswelt komplett verändern. In den Werkstätten ist die Arbeit auf den jeweiligen Menschen mit Behinderung und seine Fähigkeiten zugeschnitten. Auf dem regulären Arbeitsmarkt müssen sich die Arbeitnehmer den Leistungen anpassen, die von ihnen erwartet werden. Das schaffen viele Menschen mit Behinderung nicht, und wenn es ihnen gelingt, dann nur mit einer sehr intensiven Begleitung von Fachleuten. Hinzu kommt, dass Menschen mit Behinderung in Werkstätten besser für ihr Alter abgesichert sind. Ihnen wird 80 Prozent eines Durchschnittsrentenentgeltes angerechnet. Mit einem Job im Niedriglohnsektor rutschen sie dagegen in die Altersarmut. Sie also einfach auf den regulären Arbeitsmarkt in irgendeinen schlecht bezahlten Job zu vermitteln, kann also nicht das Ziel sein. Im Übrigen ist das aus den genannten Gründen auch nicht möglich.
Auf einer Fachtagung der Diakonie RWL haben Sie sich vor kurzem mit rund 120 Experten der Behindertenhilfe über die Werkstätten als personenzentrierte Dienstleister ausgetauscht. Welche Modelle gibt es, um Menschen mit Behinderung im Sinne der Inklusion Teilhabe an der Arbeitswelt zu ermöglichen?
Die Werkstätten haben sich da schon länger auf den Weg gemacht und zum Teil sehr gute Netzwerke in den Regionen geschaffen. Beispielhaft ist etwa die Diakonie im Kirchenkreis Recklinghausen, die sich mit einem breiten Spektrum an Arbeitsförderprogrammen um passgenaue Angebote bemüht. Menschen mit Behinderung, die in Werkstätten arbeiten, können Praktika bei ortsansässigen Firmen machen. Es gibt Außenarbeitsplätze der Werkstätten in Betrieben. Integrationsfachdienste begleiten die Menschen mit Behinderung sehr eng, damit sie die Anforderungen erfüllen können. Und regelmäßig gelingt dann auch die Vermittlung in ein sozialversicherungspflichtiges Arbeitsverhältnis. In anderen strukturschwachen, ländlichen Regionen ist die Zusammenarbeit zwischen Werkstätten und Betrieben zum Teil schwieriger, weil es einfach weniger Firmen gibt.
Trotz aller Bemühungen kaufen sich aber noch immer viele Unternehmen von der gesetzlichen Vorgabe frei, fünf Prozent ihrer Arbeitsplätze mit behinderten Menschen zu besetzen.
Das ist richtig. Allerdings beobachten wir, dass sich langsam mehr Arbeitgeber für Inklusion öffnen. Der Anteil schwerbehinderter Beschäftigter liegt bei privaten Arbeitgebern in NRW zwar bei 4,6 Prozent und damit unter diesen geforderten fünf Prozent, aber er steigt. Die Diakonie hat in NRW rund 20 Werkstattträger mit 132 Betriebsstätten, in denen 17.000 Menschen arbeiten. Sie bieten in einigen Regionen rund zehn Prozent Außenarbeitsplätze an. Der Landesdurchschnitt liegt bei vier Prozent.
Wie werten Sie das Bundesteilhabegesetz im Hinblick auf die Arbeitsförderung für Menschen mit Behinderung? Ist es tatsächlich eine große Reform oder eher ein kleines Reförmchen?
Wir sind in der Diakonie gespannt, wie der jetzige Referentenentwurf aussehen wird. Ob künftig auch alternative Anbieter zu den Werkstätten zugelassen werden und es tatsächlich ein „Budget für Arbeit“ geben wird. Damit soll den Beschäftigten die Möglichkeit gegeben werden, statt eines Werkstattarbeitsplatzes mit Hilfe eines Lohnkostenzuschusses ein sozialversicherungspflichtiges Arbeitsverhältnis auf dem ersten Arbeitsmarkt eingehen zu können. Zu mehr Beschäftigung auf dem regulären Arbeitsmarkt werden diese Maßnahmen wohl nur dann führen, wenn sie mit ausreichender Qualität und Finanzierung ausgestattet werden. Das Bundesteilhabegesetz kann tatsächlich eine große Reform werden, allerdings bleibt die Frage der Finanzierung.
Die Sozialverbände haben an das neue Bundesteilhabegesetz, das 2017 stufenweise in Kraft treten soll, große Erwartungen geknüpft. Nun verzögert sich die Einleitung des Gesetzgebungsverfahrens. Wird dies als schlechtes Zeichen für eine echte Veränderung hin zu mehr Autonomie für Menschen mit Behinderung gewertet?
Ja, das wird es. Denn es zeigt, dass die Politik uneinig über die Ausgestaltung der dringend notwendigen Reform der derzeitigen Behindertenhilfe ist. 2013 und 2014 sollten noch vier Milliarden Euro an Bundesmitteln in das Bundesteilhabegesetz fließen. Diese Gelder sind nun nicht mehr für die Eingliederungshilfe bestimmt. Es sollte auch ein Bundesteilhabegeld von 400 Euro monatlich für jeden Menschen mit Behinderung eingeführt werden, mit dem er sich Hilfsleistungen kaufen kann. Auch das ist vom Tisch. Es fließt also weniger Geld ins System als ursprünglich versprochen. Gleichzeitig steigt die Zahl der Menschen mit Behinderungen. Allein im Landschaftsverband Westfalen-Lippe haben wir in den letzten Jahren eine jährliche Zunahme von drei Prozent an Menschen mit Behinderungen, die auf staatliche Unterstützung angewesen sind.
Ein entscheidender Punkt des Gesetzes ist die Herauslösung der Eingliederungshilfe aus dem Sozialhilferecht. Sie soll für die bundesweit rund 700.000 Menschen mit Behinderung, die sie erhalten, zu einer individuellen Leistung umgestaltet werden. Wie soll das nun gehen?
Bislang erhalten Menschen mit Behinderungen ja Geld von verschiedenen Sozialhilfeträgern Wer in einer Werkstatt arbeitet, bekommt in der Regel Grundsicherung oder eine Erwerbsminderungsrente und ein Arbeitsentgelt aus der Werkstatt, das aber kein Lohn ist, von dem man leben könnte. Je nachdem, wo ein Mensch mit Behinderung wohnt, bekommt er noch eine Grundsicherung für betreutes Wohnen. Jetzt werden diese Leistungen an vielen Stellen modularisiert, d.h. es wird stärker danach geschaut, wer welche Leistungen braucht und dabei auch Barrieren im baulichen und sozialen Umfeld in den Blick genommen, nicht nur die individuelle körperliche oder seelische Beeinträchtigung. Das wird ein echter Paradigmenwechsel.
Zu einem selbstbestimmten Leben gehört für viele Menschen mit Behinderungen auch eine Arbeitsstelle. Nach wie vor sind die meisten in Werkstätten beschäftigt statt auf dem regulären Arbeitsmarkt. Kann das Bundesteilhabegesetz daran etwas ändern?
Davon ist nicht auszugehen, denn dafür müsste sich unsere Arbeitswelt komplett verändern. In den Werkstätten ist die Arbeit auf den jeweiligen Menschen mit Behinderung und seine Fähigkeiten zugeschnitten. Auf dem regulären Arbeitsmarkt müssen sich die Arbeitnehmer den Leistungen anpassen, die von ihnen erwartet werden. Das schaffen viele Menschen mit Behinderung nicht, und wenn es ihnen gelingt, dann nur mit einer sehr intensiven Begleitung von Fachleuten. Hinzu kommt, dass Menschen mit Behinderung in Werkstätten besser für ihr Alter abgesichert sind. Ihnen wird 80 Prozent eines Durchschnittsrentenentgeltes angerechnet. Mit einem Job im Niedriglohnsektor rutschen sie dagegen in die Altersarmut. Sie also einfach auf den regulären Arbeitsmarkt in irgendeinen schlecht bezahlten Job zu vermitteln, kann also nicht das Ziel sein. Im Übrigen ist das aus den genannten Gründen auch nicht möglich.
Auf einer Fachtagung der Diakonie RWL haben Sie sich vor kurzem mit rund 120 Experten der Behindertenhilfe über die Werkstätten als personenzentrierte Dienstleister ausgetauscht. Welche Modelle gibt es, um Menschen mit Behinderung im Sinne der Inklusion Teilhabe an der Arbeitswelt zu ermöglichen?
Die Werkstätten haben sich da schon länger auf den Weg gemacht und zum Teil sehr gute Netzwerke in den Regionen geschaffen. Beispielhaft ist etwa die Diakonie im Kirchenkreis Recklinghausen, die sich mit einem breiten Spektrum an Arbeitsförderprogrammen um passgenaue Angebote bemüht. Menschen mit Behinderung, die in Werkstätten arbeiten, können Praktika bei ortsansässigen Firmen machen. Es gibt Außenarbeitsplätze der Werkstätten in Betrieben. Integrationsfachdienste begleiten die Menschen mit Behinderung sehr eng, damit sie die Anforderungen erfüllen können. Und regelmäßig gelingt dann auch die Vermittlung in ein sozialversicherungspflichtiges Arbeitsverhältnis. In anderen strukturschwachen, ländlichen Regionen ist die Zusammenarbeit zwischen Werkstätten und Betrieben zum Teil schwieriger, weil es einfach weniger Firmen gibt.
Trotz aller Bemühungen kaufen sich aber noch immer viele Unternehmen von der gesetzlichen Vorgabe frei, fünf Prozent ihrer Arbeitsplätze mit behinderten Menschen zu besetzen.
Das ist richtig. Allerdings beobachten wir, dass sich langsam mehr Arbeitgeber für Inklusion öffnen. Der Anteil schwerbehinderter Beschäftigter liegt bei privaten Arbeitgebern in NRW zwar bei 4,6 Prozent und damit unter diesen geforderten fünf Prozent, aber er steigt. Die Diakonie hat in NRW rund 20 Werkstattträger mit 132 Betriebsstätten, in denen 17.000 Menschen arbeiten. Sie bieten in einigen Regionen rund zehn Prozent Außenarbeitsplätze an. Der Landesdurchschnitt liegt bei vier Prozent.
Wie werten Sie das Bundesteilhabegesetz im Hinblick auf die Arbeitsförderung für Menschen mit Behinderung? Ist es tatsächlich eine große Reform oder eher ein kleines Reförmchen?
Wir sind in der Diakonie gespannt, wie der jetzige Referentenentwurf aussehen wird. Ob künftig auch alternative Anbieter zu den Werkstätten zugelassen werden und es tatsächlich ein „Budget für Arbeit“ geben wird. Damit soll den Beschäftigten die Möglichkeit gegeben werden, statt eines Werkstattarbeitsplatzes mit Hilfe eines Lohnkostenzuschusses ein sozialversicherungspflichtiges Arbeitsverhältnis auf dem ersten Arbeitsmarkt eingehen zu können. Zu mehr Beschäftigung auf dem regulären Arbeitsmarkt werden diese Maßnahmen wohl nur dann führen, wenn sie mit ausreichender Qualität und Finanzierung ausgestattet werden. Das Bundesteilhabegesetz kann tatsächlich eine große Reform werden, allerdings bleibt die Frage der Finanzierung.