Schwerpunkt Inklusion
Eigentlich ist die Sache klar, zumindest auf dem Papier: Die Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen garantiert Menschen mit Behinderungen das Recht auf die Möglichkeit, ihren Lebensunterhalt durch Arbeit zu verdienen, die in einem für sie zugänglichen Arbeitsumfeld frei gewählt wird. Der Realitäts-Check zeigt allerdings, dass eine solch offene und inklusive Ausgestaltung bisher nicht hinreichend gelungen ist.
Deshalb braucht es Angebote für Menschen, die nicht, noch nicht oder noch nicht wieder auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt beschäftigt werden. Eines dieser Angebote sind Werkstätten für behinderte Menschen. Aktuell werden diese fachpolitisch und öffentlichkeitswirksam diskutiert. Die Diakonie RWL und ihr Evangelischer Fachverband für Teilhabe und Rehabilitation wollen mit drei Fakten dazu beitragen, die Debatte zu versachlichen.
Fakt 1: Werkstätten sind Teil eines inklusiven Arbeitsmarktes
Erschütternd: Erst kürzlich wurde die Bundesrepublik vom UN-Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen erneut gerügt, weil es mit der Inklusion nicht richtig vorangeht. "Der Staat hält sich nicht an seine eigenen Gesetze", sagt Diakonie RWL-Vorstand Christian Heine-Göttelmann. Immer wieder werde gefordert, Menschen mit Behinderungen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu beschäftigen. "Das unterstützen wir ausdrücklich", so Heine-Göttelmann. Man müsse jedoch beachten, dass der allgemeine Arbeitsmarkt weit davon entfernt sei, inklusiv zu sein.
Die Statistik zur Beschäftigung schwerbehinderter Menschen spricht eine deutliche Sprache: 2021 haben nur 39 Prozent der beschäftigungspflichtigen Arbeitgeber*innen diese Pflicht vollständig erfüllt. 35 Prozent der Unternehmen haben sie nur teilweise und 26 Prozent gar nicht erfüllt. Die Gründe mögen unterschiedlich sein. Doch belegen die Zahlen, dass nicht einmal der gesetzlich vorgegebene Schritt in Richtung Inklusion gegangen wurde.
Diakonie RWL-Vorstand Christian Heine-Göttelmann.
Diakonie RWL-Vorstand Heine-Göttelmann: "Die Nicht-Beschäftigung von Menschen mit Behinderungen verhindert Inklusion." Spezialisierte Einrichtungen wie die Werkstätten böten den vom allgemeinen Arbeitsmarkt ausgegrenzten Menschen eine Perspektive und Möglichkeit zur Teilhabe am Arbeitsleben.
Viele Unternehmen sind zurückhaltend, Werkstattbeschäftigte in sozialversicherungspflichtige Arbeitsverhältnisse zu übernehmen, die dann möglicherweise unkündbar sind. Werkstätten für behinderte Menschen übernehmen in der Vernetzung mit Unternehmen eine wichtige Aufgabe: Sie arbeiten – auch in Kooperation mit Integrationsfachdiensten – daran, Schwellenängste und Befürchtungen aufzulösen. "Selbstverständlich ist die Beschäftigung in einer Werkstatt nur eine von vielen Chancen, um eine Teilhabe am Arbeitsleben zu ermöglichen", so Heine-Göttelmann. "Wir arbeiten mit unseren Mitgliedern daran, die Wahlfreiheit auf einem inklusiven Arbeitsmarkt zu verbessern."
Die Arbeit der Werkstattbeschäftigten muss sich auch in einem höheren Einkommen widerspiegeln, so Diakonie RWL-Vorstand Christian Heine-Göttelmann.
Fakt 2: Werkstätten wollen die finanzielle Situation für ihre Beschäftigten verbessern
Aktuell beziehen viele Werkstattbeschäftigte ergänzende Leistungen der Grundsicherung. Dass sie diese überhaupt beantragen müssen, wird von vielen als mangelnde Anerkennung ihrer Arbeit wahrgenommen – auch aufgrund der Höhe des Einkommens. Denn während auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt gesetzliche und tarifliche Mindestlöhne gezahlt werden, ist dies in Werkstätten aufgrund der bestehenden Gesetzeslage nicht möglich: Diese Entgelte können die Werkstätten im jetzigen System schlichtweg nicht erwirtschaften.
In Nordrhein-Westfalen ist die Situation besonders herausfordernd: Hier zählen – als einziges Bundesland – auch Menschen mit schwersten Mehrfachbehinderungen und sehr hohen Assistenzbedarfen zu den Werkstattbeschäftigten. Das für Entgeltzahlungen zur Verfügung stehende Geld wird also auch an jene verteilt, die ihr Gehalt aus eigener Leistung nicht erwirtschaften können. Produktionsstärkere Beschäftigte erwirtschaften das Werkstatt-Entgelt dieser Menschen also mit und zeigen sich damit höchst solidarisch. Heine-Göttelmann: "Dieser Weg wird in NRW befürwortet und sichert auch Menschen mit schwersten Mehrfachbehinderungen das Recht auf Teilhabe am Arbeitsleben. Er darf im Sinne des Inklusionsgedankens nicht in Frage gestellt werden!"
Neben einem Wirtschaftsunternehmen sind Werkstätten zuallererst Einrichtungen zur Teilhabe: Sie haben einen Rehabilitationsauftrag und gleichen Nachteile aus. Darüber hinaus unterstützen sie die Beschäftigten bei einer möglichst selbstbestimmten Lebensführung und fördern deren Persönlichkeitsentwicklung.
"Wir fordern mehr Anerkennung für die Arbeitsleistung der Werkstattbeschäftigten, die sich in höheren Einkommen widerspiegeln muss", so Heine-Göttelmann. Das derzeitige gesetzliche System verhindere, dass Werkstätten die Einkommenssituation verbessern können. "Wir brauchen daher Gesetzesänderungen und deutlich mehr staatliche Unterstützung."
Nur wenige, die in einer Werkstatt arbeiten, schaffen den Sprung in einen regulären Job.
Fakt 3: Werkstätten sind Wegbegleiter auf den allgemeinen Arbeitsmarkt
Eine aktuelle Studie des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales zeigt, dass 2019 deutschlandweit nur 0,35 Prozent der rund 300.000 Werkstattbeschäftigten den Übergang auf den allgemeinen Arbeitsmarkt geschafft haben, also nur rund 1.000 Personen. Es gibt keine belastbaren statistischen Daten zu den Gründen, warum der Übergang so selten gelingt. Einige liegen jedoch auf der Hand:
Erstens: Werkstatt-Mitarbeitende, die bei ausgelagerten Arbeitsplätzen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt arbeiten, werden oft nicht in ein sozialversicherungspflichtiges Arbeitsverhältnis übernommen – die Befürchtung, einen dann unkündbaren Mitarbeitenden zu übernehmen, ist groß. Zweitens: Menschen mit Behinderungen sind oftmals nicht so mobil wie Menschen ohne Behinderung. Und drittens: In den Werkstätten arbeiten immer mehr Personen mit psychischen Erkrankungen. Oft ruft bei ihnen die Aussicht einer Rückkehr auf den allgemeinen Arbeitsmarkt Ängste und Unsicherheiten hervor.
"Die Gründe, die einer Arbeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt entgegenstehen, sind vielfältig", sagt Heine-Göttelmann. "Werkstätten nehmen das gesetzlich verankerte Wahlrecht ernst und unterstützen die Menschen sowohl bei ihrer Arbeit in der Werkstatt als auch bei einem Wunsch nach einem Übergang auf den allgemeinen Arbeitsmarkt."
Fazit: Werkstätten helfen dabei, den Arbeitsmarkt inklusiver zu gestalten
Werkstätten für behinderte Menschen sind Einrichtungen für Teilhabe und Rehabilitation. Sie sind weder dafür verantwortlich, dass Menschen mit Behinderungen aus dem allgemeinen Arbeitsmarkt ausgegrenzt werden, noch für die bisher recht geringen Entgeltzahlungen. Auch sind sie nicht allein dafür verantwortlich, ob sich Menschen mit Behinderungen auf den allgemeinen Arbeitsmarkt vermitteln lassen oder nicht. "Vielmehr", sagt Christian Heine-Göttelmann, "muss die zur Verfügung stehende Arbeit so ausgestaltet sein, dass auch Menschen mit Behinderungen sie gut bewältigen können."
Ein Problem seien die nur unzureichend angepassten Arbeitsmöglichkeiten und gesetzlichen Bedingungen. Diese und die Regelungen des Entgeltsystems müssen im Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention verschärft in den Blick genommen werden.
Text: Franz Werfel, Fotos: Canva, Diakonie RWL/Andreas Endermann, Shutterstock, Silke Tornede