Modellprojekt B-Fair

Frauen beraten ohne Barrieren

Viel zu selten nutzen Frauen mit Behinderungen Beratungsangebote. Das möchte das Team von "B-Fair" ändern und baut deshalb Brücken – zwischen der Frauenberatung des Diakonischen Werks Recklinghausen und den Einrichtungen der Eingliederungshilfe. Seit fast zwei Jahren läuft das Modellprojekt. Was seitdem passiert ist.

  • Drei Frauen lachen in die Kamera.
  • Eine Frau zeigt ein Bild mit der Aufschrift "Hör auf dein Herz".
  • Drei Frauen halten sich im Arm und lächeln sich an.
  • Frauen haben die Ergebnisse ihres Workshops auf Plakate geschrieben.
  • Drei Frauen halten sich im Arm und lächeln in die Kamera.
  • Frauen haben die Ergebnisse ihres Workshops auf Plakate geschrieben.

Eine junge Frau möchte ausziehen. Sie hat eine Wohngemeinschaft des Diakonischen Werks entdeckt und möchte das elterliche Nest verlassen. Jetzt fehlt ihr der Mut, mit ihren Eltern über ihren Wunsch zu sprechen. Mehr als 18 Jahre haben die Eltern an ihrer Seite gestanden, um den Alltag mit Beeinträchtigung zu meistern – sie haben gemeinsam gekämpft, um Hürden zu überwinden und Perspektiven zu entwickeln. Die junge Frau möchte ihre Eltern nicht vor den Kopf stoßen, sie nicht verletzen und gleichzeitig ihren großen Traum leben. Dann bekommt sie bei ihrer Arbeit in der Werkstatt plötzlich einen Flyer in die Hände mit der Telefonnummer der Beratungsstelle "B-Fair".

Mut machen

In einer ruhigen Minute wählt sie die Nummer und trifft am anderen Ende auf Mandy Neumann, Sozialarbeiterin im Projekt B-Fair im Bereich "Hilfen für Frauen" beim Diakonischen Werk im Kirchenkreis Recklinghausen. Die Aufregung legt sich, als sie spürt: Mandy Neumann hört ihr zu. Die Beraterin hat ein Ohr für den großen Traum der jungen Frau. Sie bremst sie nicht aus, findet nicht als erstes viele Argumente gegen einen Auszug oder wimmelt sie ab.

Mandy Neumann macht der jungen Frau stattdessen Mut, mit ihren Eltern zu sprechen. Und sie garantiert ihr: Wenn sie Unterstützung braucht, dann ist sie am anderen Ende zu erreichen. Die Frau nimmt ihren Mut zusammen, vereinbart einen Gesprächstermin mit ihren Eltern und ruft auch schnell Mandy Neumann an, um sie über das anstehende Gespräch zu informieren. Eine Stunde später klingelt das Telefon in der Beratungsstelle erneut: "Es war gar nicht so schlimm", sagt die junge Frau erleichtert, "wir schaffen das jetzt zusammen."

Eine Frau meldet sich zu Wort und hebt den Zeigefinger.

"B-Fair" setzt auf Beteiligung: Eine Wohngruppe der Eingliederungshilfe arbeitet regelmäßig in Workshops mit.

Erste Finanzierung gesichert

Auf das Gesicht von Karin Hester, Leiterin im Bereich Hilfen für Frauen, schleicht sich in diesen Momenten zuweilen ein tiefes, zufriedenes Lächeln, als sie von der Situation erzählt. Denn diese Anrufe zeigen ihr: "Es funktioniert. Wir bauen Brücken." Die Leiterin der "Hilfen für Frauen" hat viel Erfahrung mit der Frauenberatung. Jahre und Jahrzehnte. Aber nie hat in dieser Zeit eine Frau mit geistiger Behinderung das Beratungsangebot genutzt.

Frauen mit Beeinträchtigung seien einfach oft gut eingebettet in die Hilfe-Strukturen. Aber so gut wie nie finde eine Vernetzung zu dem klassischen Beratungsangebot statt. Um das zu ändern, sind Karin Hester, die Fachreferentinnen des Diakonischen Werkes und ihr Team mit dem Projekt "B-Fair" angetreten. "Wir wollten eine barrierefreie Beratung schaffen", erzählt sie.

Sie bemühten sich 2022 um die Finanzierung eines Modellprojektes und erhielten schließlich im August 2022 von der "Aktion Mensch" die Zusage für eine Förderung bis 2025. Ihr Projekt stellten sie auf vier Säulen: Beratung, Beteiligung, Vernetzung und den Aufbau eines Methodenkoffers.

Frauen sitzen in einem Workshop zusammen.

In einem Workshop ist die Idee entstanden, einen Kurs anzubieten, in dem die Frauen ein Wendo-Trainerzertifikat erlangen können. 

Beteiligung ist das Herzstück

"Uns war klar: Wir wollen die Frauen fragen, was sie brauchen, anstatt vorzugeben, schon alles zu wissen", sagt Projektleiterin Janet Orlando. Deswegen startete das Team mit dem Aufbau der Säule "Beteiligung": Sie knüpften Kontakt zu einer Wohngruppe der Eingliederungshilfe und trafen mitten in der Pandemie auf Frauen, die sich für die Idee begeistern ließen, von ihren Bedürfnissen zu erzählen.

"Wir haben uns jede Woche zu einem digitalen Gruppengespräch getroffen", erzählt Janet Orlando. Und schnell stellte sich heraus: Die Frauen freuten sich über das Interesse der Beraterinnen. Sie sprachen frei und ohne Vorbehalte. Das galt für Alltagsthemen rund um Partnerschaft, Sexualität und Freundschaft, Liebe und Selbstwert, aber eben auch für ihre Anforderungen an ein Beratungsangebot. "Seitdem werden alle Materialien als Generalprobe zuerst an unsere Expertinnen der Gruppe gegeben", sagt Janet Orlando. Alle Ideen, die bei "B-Fair" entstehen, werden zuerst von Menschen mit Beeinträchtigung auf ihre Sinnhaftigkeit und Tauglichkeit geprüft. Dazu finden Workshops statt.

"Als wir uns nach den Zoom-Treffen zum ersten Mal persönlich begegnet sind, fühlten wir uns schon ganz verbunden", erzählt Janet Orlando, "die Beteiligung ist zum Herzstück unseres Projekts geworden." Nicht umsonst gehört zum Team auch eine Mitarbeiterin mit Behinderung: Sie ermöglicht eine Peer-to-Peer-Beratung.

Karin Hester, Leitung "Hilfen für Frauen" im Diakonischen Werk Recklinghausen,  und Janet Orlando, Projektleiterin B-Fair.

Karin Hester (li.), Leitung des Bereichs "Hilfen für Frauen" im Diakonischen Werk Recklinghausen,  und Janet Orlando, Projektleiterin B-Fair.

Raus aus der Hilflosigkeit

Die Beraterinnen haben viel gelernt von der Gruppe: "In der Beratung von Menschen mit Beeinträchtigung muss man sehr genau zuhören", sagt Karin Hester, "es ist wichtig, den Frauen die Möglichkeit zu geben, über ihre Wünsche und Ideen zu sprechen." Zu oft hätten Frauen mit Behinderungen in ihrem Leben erfahren, dass sie nicht ernst genommen würden. "Die Frauen wurden lange in eine Hilflosigkeit reinsozialisiert", weiß sie. Die Beratung wolle ihnen das klare Signal geben: "Hier ist jemand, den du nicht erst suchen musst. Und du hast einen rechtlichen Anspruch auf diese Unterstützung – so wie jede andere Frau auch." 

Parallel nahm Janet Orlando Kontakt zu den Einrichtungen und Diensten der Eingliederungshilfe im Kirchenkreis Recklinghausen und darüber hinaus auf. "Es war mir wichtig, die Lebenswelt der Frauen kennenzulernen", sagt die studierte Heilpädagogin. Sie ging "Klinken putzen", knüpfte Kontakte, hospitierte und lernte Gleichstellungsbeauftragte kennen.

Ähnlichen Einsatz zeigte Karin Hester jenseits des diakonischen Horizonts: Sie wurde mit dem Projekt bei Stadt und Kreis vorstellig, erzählte am "Runden Tisch" von ihrer Arbeit, bei den Opferschutzbeauftragten der Polizei, in Fachhochschulen und Bildungseinrichtungen in Recklinghausen. "Wir haben B-Fair bei den Menschen bekannt gemacht", erzählt Karin Hester. Hürde für Hürde räumten sie aus dem Weg, mit der festen Überzeugung: "Wenn wir wirklich Hürden abbauen wollen, dann finden wir Möglichkeiten." 

Eine Frau befestigt einen Zettel an einer Stellwand.

In den Workshops machen die Frauen klar, welche Ideen und Wünsche sie haben. 

Immer neue Ideen

Inzwischen haben viele Frauen mit Behinderungen von der Beratungsstelle gehört. Es sind Infoblätter in einfacher Sprache entstanden. Das Team ist digital, telefonisch und persönlich in einem barrierefreien Büro zu erreichen. Es gibt eine Nummer für den Notfall. Und es sind neue Workshop-Ideen entstanden: wie das Angebot eines Kurses zur Erlangung eines Wendo-Trainerzertifikats. Die Gleichstellungsbeauftragten der Einrichtungen zur Eingliederungshilfe können sich gemeinsam mit den Teammitarbeiterinnen zu Trainerinnen ausbilden lassen – und ihr Wissen dann wiederum weitergeben.

"Für uns ist es ganz wichtig, unsere Erfahrungen und unsere Arbeit zu dokumentieren und die Möglichkeit zu schaffen, sie weiterzugeben", sagt Karin Hester. Es ist die vierte Säule des Projekts. 2025 endet die Förderung. Gerade bemüht sich das Team um eine Anschlussfinanzierung. "In jedem Fall würden wir gerne einen Materialkoffer entwickeln", sagt Karin Hester. Mitarbeitende von anderen Beratungsstellen könnten auf diese Weise gerüstet werden, Hürden aus dem Weg zu räumen.

Heike Buschmann, Referentin im Geschäftsfeld Familien und junge Menschen bei der Diakonie RWL.

"Für die evangelische Beratungslandschaft ist B-Fair ein Geschenk", sagt Heike Buschmann, Referentin im Geschäftsfeld Familie und junge Menschen bei der Diakonie RWL.

Wie ein Sechser im Lotto

Auch Heike Buschmann, Referentin im Geschäftsfeld Familie und junge Menschen beim Diakonischen Werk Rheinland-Westfalen-Lippe, wünscht sich, dass die Erfahrungen Wellen schlagen. "Für die evangelische Beratungslandschaft ist B-Fair ein Geschenk – wie ein Sechser im Lotto", sagt sie. "Wir lernen hier, was Frauen mit Behinderungen brauchen, um sowohl das Angebot der Frauenberatung als auch das der Schwangerschafts(konkflikt)beratungsstellen in Anspruch zu nehmen." Die Versorgungsstruktur werde bisher zu wenig von Menschen mit Behinderungen genutzt. "B-Fair" hingegen verbinde das Beratungsangebot mit stationären Einrichtungen. "So entsteht eine Verbindung zwischen versäulten Bereichen", erklärt Heike Buschmann und betont: "Denn wir sind für alle da!" Um diese Botschaft künftig noch entschiedener zu Frauen mit Behinderungen zu bringen, wolle man die Erkenntnisse von "B-Fair" nutzen.

Text: Theresa Demski, Fotos: Thilo Schmülgen/Aktion Mensch, B-Fair, Diakonie RWL

Ihr/e Ansprechpartner/in
Heike Buschmann
Geschäftsfeld Familie und junge Menschen
Weitere Informationen
Ein Artikel zum Thema:
Behinderung und Teilhabe

TV-Dreh

Aktion Mensch stellt bei der monatlichen Ziehung der Gewinner der Lotterie ausgewählte Projekte vor, die gefördert werden. Im April 2024 lief im ZDF, unmittelbar vor den heute-Nachrichten, ein kurzer Film über "B-Fair". Dieser Link führt zum Clip Aktion Mensch - Glückszahlen der Woche vom 28. April 2024 - ZDFmediathek