29. Juni 2021

Menschen mit intensivem Unterstützungsbedarf

Wenn das System einfach nicht passt

"Systemsprenger", die ihre Wut und Emotionen nicht kontrollieren können und nirgendwo so recht reinpassen – so werden Menschen mit Behinderung, die einen intensiven Unterstützungsbedarf haben, häufig dargestellt. Dabei ist es das System, das ihnen nicht gerecht wird, sagen Ingmar Steinhart und Sandra Waters aus Bethel. Ein Umdenken sei lange überfällig.

  • Sandra Waters, Geschäftsführerin Bethel.regional und Prof. Dr. Ingmar Steinhart, Vorstand Bethel
  • Wütender Mann Symbolfoto

Menschen mit intensivem Unterstützungsbedarf. Das klingt etwas sperrig. In der Öffentlichkeit wird stattdessen häufig von "Systemsprengern" gesprochen. Ist dieser Begriff passend?

Ingmar Steinhart: Der Begriff impliziert eine einseitige Schuldzuweisung des Problems: "Du passt nicht in unser System." Aber wenn ein Mensch Schwierigkeiten mit der Welt hat, gibt es dafür immer mehrere Ursachen. Probleme entstehen in der Interaktion mit der Umwelt – sie sind nie einseitig. Man sollte den Begriff "Systemsprenger" heutzutage daher vermeiden. Wir sprechen von Menschen mit intensivem Unterstützungsbedarf oder Menschen mit kreativen Verhaltensweisen. 

Wie äußern sich diese Verhaltensweisen?

Steinhart: Das ist unterschiedlich. Häufig kommt es zu Gewalt gegen sich selbst oder gegen andere. Manche Menschen schlagen zum Beispiel mit dem Kopf gegen die Wand oder verschlucken Schrauben und Nägel. Andere zerstören Mobiliar, bedrohen oder schlagen ihre Bezugspersonen.

Sandra Waters: Es kommt dabei auf die Haltung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter an. Die grundsätzliche Einstellung muss sich weiterentwickeln: Wir müssen die Aggressionen und die nicht angepassten Verhaltensweisen als eine Form der Kommunikation verstehen.

Wie entstehen solche Auffälligkeiten?

Steinhart: Es gibt vielfältige Entstehungsgeschichten bei Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen, zum Beispiel Psychosen. Bei kognitiven Beeinträchtigungen stehen die Menschen manchmal auf dem Entwicklungsniveau eines Kindes oder eines jungen Menschen, man sieht sie aufgrund ihres Alters aber als Erwachsene. Ihr Verhalten ist dann manchmal schwer verständlich oder nicht immer kontrollierbar. Deshalb ist eine Diagnostik der emotionalen Entwicklung so wichtig.

Frau verbirgt ihr Gesicht hinter einer Hand

Vermeintlich kleine Anlässe können Wutanfälle auslösen: Einige der Menschen verletzten dann sich selbst oder andere.

Was sind die Herausforderungen in der täglichen Unterstützung und Betreuung dieser Menschen?

Steinhart: Entscheidend ist, bei jedem einzelnen herauszufinden, warum er oder sie in bestimmten Situationen besondere Verhaltensweisen zeigt. Es kann zum Beispiel sein, dass jemand Angst vor Männern zeigt, weil er oder sie als Kind missbraucht wurde. Ein Klient bei uns kauerte immer wieder neben einer Heizung. Es stellte sich heraus, dass er in einer Einrichtung regelmäßig an einer Heizung festgekettet wurde. Viele der Betroffenen sind liebenswerte Menschen, können aber aus vermeintlich kleinen Anlässen plötzlich sehr aggressiv werden. Mitarbeitende in diesem Bereich müssen die Anzeichen dafür möglichst früh wahrnehmen. Dafür müssen sie besonders geschult werden.

Manchmal kommen wir aber auch an unsere Grenzen und wissen nicht weiter – dann helfen nur Beratungen mit anderen, der externe Blick. Wir fragen auch Betroffene selbst, was ihnen hilft und verlassen uns nicht nur auf unseren "Profi-Blick".

Waters: Wir brauchen dafür besonders ausgebildete Fachkräfte mit einer personenzentrierten Sichtweise und einer offenen Haltung gegenüber diesen Menschen. Sie benötigen konkrete Konzepte und Methoden, um zum Beispiel zu erkennen: Auf welchem Entwicklungsstand ist mein Gegenüber? Was braucht er oder sie gerade? Häufig fehlt dieses gut ausgebildete Personal. Die Konzepte und Methoden sind nämlich kein Bestandteil der Ausbildung.

Eine Frau mit Behinderung bei der Musiktherapie

Emotionen mit Musik ausdrücken: Viele Angebote der regulären Eingliederungshilfe sind für Menschen mit außergewöhnlich intensivem Unterstützungsbedarf in dieser Form nicht passend. Sie brauchen eine viel individuellere Unterstützung.

Wie bereiten Sie Mitarbeitende auf diesen besonderen Alltag vor?

Steinhart: In der Ausbildung wird vieles leider nicht abgebildet. Wir haben deshalb eigene Schulungen zu Gewaltprävention, zu Haltungsfragen, rechtlichen und eigenen Grenzen.

Waters: Wir bieten Schulungen in ganz unterschiedlichen thematischen Bereichen an. Wir sehen im Arbeitsalltag: Durch die hohe Fachlichkeit entsteht ein anderes Verständnis für die Betroffenen.

Steinhart: Das stimmt. Denn auch wenn jeder Fall anders ist – es gibt dabei immer biologische, psychiatrische, psychologische und pädagogische Aspekte. Wir brauchen den Blick aus verschiedenen Perspektiven am besten unter Einbezug der Menschen selbst. Wer als Profi sagt "Ich kann das alleine lösen", der macht etwas falsch.

Zur Arbeit können auch Fixierungen und andere Maßnahmen gehören, die die Freiheit der Menschen einschränken. Das sind starke Eingriffe. Wann sind sie nötig?

Waters: So genannte freiheitsentziehende Maßnahmen müssen immer auf ein absolutes Minimum reduziert werden und sind auch nie dauerhaft anzusehen – und dann selbstverständlich auch nur mit einem richterlichen Beschluss als letztes Mittel der Wahl. Es gibt aber Menschen, die das in gewissem Maße benötigen. In der Öffentlichkeit besteht da manchmal ein falsches Bild: Es geht nicht darum, Menschen dauerhaft festzubinden. Es kann auch bedeuten, dass zum Beispiel in einer Einrichtung vorne die Tür verschlossen ist, weil das zum Schutz des Klienten oder der Klientin notwendig ist.

Steinhart: Es gibt Beispiele, bei denen man Betroffene vor sich selbst schützen muss: Menschen, die aus ihrer Wohngemeinschaft weglaufen und plötzlich auf der Autobahn stehen, Drogen nehmen oder Straftaten begehen etwa. Da stehen wir in der Verantwortung. Jede Zwangsanwendung sollte nur eine Übergangslösung sein, befristet und mit dem Ziel, ohne Zwang auszukommen.

Drei Frauen sitzen draußen und sind am Lernen

Individualisierte Konzepte und regelmäßige Qualifizierungen: Häufig fehlt das gut ausgebildete Personal für die Zielgruppe. Die Konzepte und Methoden sind noch immer kein Bestandteil der Ausbildung.

Haben Sie den Eindruck, dass die Debatte nach den Vorfällen im Wittekindshof jetzt engagierter und ernsthafter geführt wird?

Steinhart: Die Aufmerksamkeit für diesen Personenkreis ist jetzt endlich da. Der erste Reflex bei solchen Vorfällen ist ja oft "Wir brauchen mehr Kontrolle." Diese hat hier zwar offenbar versagt, aber allein und losgelöst hilft sie weder den Menschen noch den Mitarbeitenden. Wir brauchen endlich einen auf die Personen zentrierten Ansatz mit besseren Konzepten, mehr Forschung, besser eingebundenen qualifizierten psychiatrischen Angeboten und vor allem mehr ausgebildetes Personal! Mit einer guten psychologischen Behandlung und ausreichend geschulten Mitarbeitenden kann man Verhaltensauffälligkeiten deutlich reduzieren. Das muss immer das Ziel sein – im Interesse der Klienten und natürlich auch der Mitarbeitenden. 

Ist das denn finanzierbar?

Steinhart: Wenn wir frühzeitig gute Unterstützungsangebote machen, wird das anfangs im Einzelfall sicher teurer, aber die Langzeitkosten werden deutlich sinken – die Investitionskosten in intensive pädagogisch-therapeutische Konzepte, die kleinteilig baulich unterstützt werden und den Sozialraum einbeziehen, lohnen sich auf jeden Fall! Und die Teilhabe der Menschen muss uns das auch wert sein.

Mit einem Positionspapier hat sich eine Arbeitsgemeinschaft aus diakonischen Trägern unter Leitung der Diakonie RWL an das nordrhein-westfälische Gesundheits- und Sozialministerium gewandt. Bethel war Teil der AG und Sie, Frau Waters, haben das Papier in einer Kommission des Ministeriums vorgestellt. Wie haben Sie die Diskussion wahrgenommen?

Waters: Wir haben dort deutlich Position bezogen für diesen speziellen Personenkreis. Unsere Forderung, die Betreuung und Behandlung viel individueller auf die Betroffenen auszurichten, wurde positiv aufgenommen. Die Diskussion habe ich als sehr konstruktiv wahrgenommen: Die für die Zukunft entscheidenden Themen wurden angesprochen und kritisch hinterfragt.

Jetzt hoffen wir, dass sich die Expertinnen und Experten dafür einsetzen, dass sich das System nachhaltig verändert. Die Leistungsträger müssen überzeugt werden, dass sich die höheren Ausgaben für die individualisierten Konzepte lohnen. Wir bleiben da dran.

Text: Ilka Hahn und Ann-Kristin Herbst.
Fotos: Bethel, Usman Yousaf/Unsplash, Toa Heftiba/Unsplash, Shutterstock und Alexis Brown/Unsplash
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Weitere Informationen

Zu den Personen: 
Prof. Dr. Ingmar Steinhart ist im Vorstand Bethels. Außerdem leitet er an der Universität Greifswald das Institut für Sozialpsychiatrie. Er hat sich in der Forschung seit über 20 Jahren intensiv mit der Thematik "geschlossener Unterbringung" und in der Praxis mit der Umsetzung kleinteiliger Angebote für Menschen mit intensivem Unterstützungsbedarf beschäftigt.

Sandra Waters ist Geschäftsführerin in Bethel.regional, einem Stiftungsbereich der v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel. Sie leitet unter anderem das interne Bundesteilhabegesetz (BTHG)-Projekt in Bethel.regional und ist darüber hinaus Koordinatorin für alle übergreifenden Aktivitäten zum BTHG in den v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel.