Kampagne Zusammen ist Zukunft
Claudia Middendorf hört aufmerksam zu, als Zora Kiesow ihre Frage formuliert: "In Mönchengladbach sind noch nicht einmal alle Verwaltungsgebäude, in denen man Grundsicherung beantragen kann, barrierefrei. Wie ist Ihre Vision für die Zukunft und was können Sie tun, damit sich das ändert?" Eine gute Frage, die praktisch die gesamte Tätigkeit der Beauftragten für Menschen mit Behinderung sowie für Patientinnen und Patienten umfasst.
Das Thema Barrierefreiheit ist vielschichtig. Einerseits ist damit der Zugang zu Gebäuden gemeint: Kann ein Rollstuhlfahrer, ein Sehbehinderter oder ein Mensch mit geistigen Beeinträchtigungen ein Gebäude betreten und sich darin problemlos zurechtfinden? Gibt es Fahrstühle, farbige Markierungen, Leitsysteme? Was ein Mensch mit Beeinträchtigungen nicht betreten oder auffinden kann, kann er oder sie schließlich auch nicht nutzen. Deswegen gibt es in NRW das Portal InformierBar mit Informationen zur Barrierefreiheit öffentlich zugänglicher Einrichtungen. Bürgerinnen und Bürger geben die Örtlichkeit ein und erhalten Informationen zur Zugänglichkeit und Nutzbarkeit. Umfassende Daten gibt es allerdings noch nicht. Für Mönchengladbach ist beispielsweise bislang noch kein Gebäude erfasst.
Nicht nur Stufen behindern: Formulare in einfacher Sprache sind noch immer zu selten, kritisiert NRW-Behindertenbeauftragte Claudia Middendorf. Das Ausfüllen ist für viele Menschen ohne Hilfe nicht zu schaffen.
Barrierefreiheit mitdenken
Dabei hat sich bereits einiges bei der barrierefreien Planung getan: Der Teilhabebericht Nordrhein-Westfalen 2020 weist darauf hin, dass die Bedürfnisse von Menschen mit Körper- und Sinnesbeeinträchtigungen ernst genommen werden – an Rampen, Fahrstühle oder taktile Systeme wird gedacht. Die spezifischen Barrieren für Menschen mit geistigen oder psychischen Beeinträchtigungen seien dagegen noch zu wenig bekannt, so der Teilhabebericht. Das ist auch der zweite Punkt, auf den Claudia Middendorf im Interview mit Zora Kiesow und Philipp Fuchs verweist: "Viele Formulare sind nicht barrierefrei", kritisiert die Landesbeauftragte. "Auch viele Betreuer haben erhebliche Probleme, diese Formulare auszufüllen, weil sie einfach nicht verständlich sind."
Jeder und jede in der Gesellschaft kann von gelebter Barrierefreiheit profitieren. Kein Schulabschluss, keine Ausbildung und keine Lebenserfahrung bewahren Menschen davor, an unverständlichen Formularen deutscher Behörden zu verzweifeln und zu scheitern. Barrierefreie Formulare nützen nicht nur Menschen mit Behinderung, ihnen aber besonders.
Höhere Arbeitslosigkeit bei Menschen mit Behinderung
Barrieren versperren auch den Zugang zum Arbeitsmarkt. Menschen mit Beeinträchtigungen waren laut NRW-Mikrozensus 2017 mit einem Anteil von zwölf Prozent deutlich häufiger arbeitslos. Im gleichen Jahr waren nur sieben Prozent der Menschen ohne Beeinträchtigung arbeitslos gemeldet. Die tatsächlichen Unterschiede zwischen Menschen mit und ohne Beeinträchtigung auf dem Arbeitsmarkt dürften sogar noch größer ausfallen. Denn am Mikrozensus nehmen vor allem Personen aus Privathaushalten teil. Menschen aus stationären Einrichtungen sind im Mikrozensus hingegen unterrepräsentiert.
Die Hürde erster Arbeitsmarkt: Nur wenige Schwerbehinderte finden eine Anstellung bei einem privaten Arbeitgeber. Eine Stelle in einer Autowaschanlage ist keine Selbstverständlichkeit.
Was tut die Landesbehindertenbeauftragte gegen die höhere Arbeitslosenquote bei Menschen mit Beeinträchtigung? Im Koalitionsvertrag ist eine Quote von fünf Prozent bei Neueinstellungen in den Landesbehörden vorgegeben, betont Claudia Middendorf. Sie will eine Kontrollinstanz errichten und die Umsetzung überprüfen. In Nordrhein-Westfalen wird die Pflichtquote von fünf Prozent zwar seit Jahren erreicht und sogar leicht überschritten. Das liege jedoch an einer Übererfüllung durch die öffentlichen Arbeitgeber, wie der Teilhabebericht NRW feststellt. Die Quote bei den privaten Arbeitgebern bleibe unter fünf Prozent. Echte Teilhabe sieht anders aus.
Middendorf, die selbst seit ihrem 16. Lebensjahr mit und für Menschen mit Behinderung arbeitet, möchte daher die Gewerkschaften für das Thema einspannen: "Wir müssen auch die Tarifparteien sensibel machen für Menschen mit Behinderung als Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer." Private Arbeitgeber sollten dem Vorbild der Landesbehörden folgen, sodass Menschen mit Beeinträchtigungen auch in der freien Wirtschaft einfacher Fuß fassen können.
Text: Angela Rietdorf, Redaktion: Ann-Kristin Herbst, Fotos: Simon Roehlen und Jeannine Karl/ Ev. Stiftung Hephata und Shutterstock.
Behinderung und Teilhabe
Menschen mit Behinderung
In Deutschland leben fast acht Millionen Menschen mit einer Schwerbehinderung, das sind fast zehn Prozent der Bevölkerung. Der Teilhabebericht des Landes NRW verwendet die erweiterte Definition der Beeinträchtigung, die auch Menschen mit chronischen Erkrankungen einbezieht und kommt sogar auf 3,67 Millionen Menschen, das sind 20 Prozent der Bevölkerung Nordrhein-Westfalens, die in ihren Teilhabemöglichkeiten eingeschränkt sind.