17. Dezember 2020

Kampagne Zusammen ist Zukunft

Das Tabu der Einsamkeit

Stille Nacht, einsame Nacht – für viele Menschen ist Weihnachten leer und lang. Erst recht jetzt, während der Corona-Krise. Bereits vor dem Ausbruch der Pandemie fühlte sich jeder dritte Mensch mit Beeinträchtigung oder Schwerbehinderung einsam. "Es ist ein brandgefährliches Gift", sagt Diakonie-Präsident Ulrich Lilie im Interview mit dem Social Media Team Hephata und der Diakonie RWL.

  • Zuhören: Philipp Fuchs und Zora Kiesow während des Interviews mit Diakonie-Präsident Ulrich Lilie.
  • Diakonie-Präsident Ulrich Lilie
  • Philipp Fuchs vom Social Media Team Hephata
  • Hand, die einen roten Zettel mit einer Frage hält
  • Zora Kiesow vom Social Media Team Hephata

Druck, Stress und Einsamkeit: Hinter Zora Kiesow vom inklusiven Social Media Team Hephata liegt eine anstrengende Zeit. "Mit dem Homeoffice bin ich am Anfang gar nicht klargekommen", gibt sie im Interview mit Diakonie-Präsident Ulrich Lilie zu. "Wenn man niemanden hat, den man fragen kann, ist das sehr schwierig." Sie habe sich auf sich selbst zurückgeworfen gefühlt. "Das war schon komisch, so alleine zu arbeiten", meint auch Teamkollege Philipp Fuchs. Mittlerweile sind die beiden zurück im Büro. Sie recherchieren, drehen und interviewen für die Kampagne "Zusammen ist Zukunft" der Diakonie RWL und Stiftung Hephata – immer mit genügend Abstand, einem Mund-Nasen-Schutz und regelmäßigem Lüften.

Während des Interviews mit Ulrich Lilie, Präsident der Diakonie Deutschland, sitzen Kiesow und Fuchs am Redaktionstisch und schauen auf den großen Touch Screen. Ulrich Lilie ist aus Berlin per Videoanruf dazu geschaltet. Irgendwie passend für dieses Jahr zwischen Videokonferenz und Abstand halten. Alleinsein und Distanz sind zum Alltag geworden.

Menschen mit Behinderung fühlen sich einsamer 

Nach einer Studie des Paritätischen Wohlfahrtsverbands fühlen sich Menschen mit einer Beeinträchtigung fünfmal häufiger einsam als Menschen ohne Behinderung. In der Corona-Pandemie dürfte sich dieses Gefälle noch weiter verstärken, denn viele gehören genauso zur Risikogruppe wie Seniorinnen und Senioren oder Personen mit Vorerkrankungen. Sie alle erlebten zu Beginn der Pandemie strikte Besuchseinschränkungen in den Heimen und Einrichtungen.

Im erneuten Shutdown seien Schutz und Prävention zwar sehr wichtig, es müsse aber so organisiert werden, dass "möglichst viel vom normalen Leben möglich ist", sagt der Diakonie-Präsident im Interview. Das sei die Aufgabe der Verantwortlichen. Nicht nur in den Einrichtungen, sondern auch in der Politik. Ein Schließen von Altenheimen und Wohngruppen dürfe es nicht noch einmal geben.

Eine Seniorin schaut melancholisch durch das Fenster ihrer Wohnung.

Dem Treiben auf der Straße zuschauen: Viele ältere Menschen fühlen sich in der Corona-Pandemie einsam.

Wenn die Einsamkeit bleibt

Vor allem, wenn Menschen in ihrem Leben Umbrüche erfahren, fühlen sie sich einsam. Der neue Arbeitsplatz, der neue Wohnort oder ein neuer Lebensabschnitt – all das kann einen zunächst in ein Gefühl von ungewolltem Alleinsein versetzen. Einsamkeit ist subjektiv. Wer sich einsam fühlt, ist es auch. 

"Alleinsein ist ja eigentlich nichts Schlimmes", betont Lilie. "Manchmal ist es sehr gut, allein zu sein, um sich ein bisschen zu sortieren, mal zu sich zu finden, nachzudenken. Was Schönes zu lesen. Irgendeinen neuen Gedanken zu finden." Problematisch würde es erst, wenn sich Menschen isoliert fühlten und die Erfahrung der Einsamkeit kein vorübergehendes Gefühl sei, sondern bleibe. Oft über Jahre hinweg.

Ein Mädchen im Rollstuhl schaut anderen Kindern beim Spielen zu.

Zuschauen statt mitspielen: Viele Spielplätze und andere Freizeitangebote sind nicht barrierefrei.

Fehlende Teilhabe macht einsam

Häufig hängt das ungewollte Alleinsein auch mit mangelnden Möglichkeiten zur Teilhabe zusammen. Dazu gehören Armut, fehlende Barrierefreiheit, schlechtere Chancen auf dem Arbeitsmarkt und gesundheitliche Einschränkungen. "Das Leben mit Beeinträchtigung ist noch immer nicht normal", so Lilie. Eine Behinderung sei eine Eigenschaft von vielen. Es läge an der Mehrheitsgesellschaft, Teilhabe trotzdem zu ermöglichen und Beeinträchtigungen als etwas Alltägliches zu verstehen. 

Hier sind für ihn auch Kirchen und Diakonie in der Verantwortung. 70 Prozent der Weltbevölkerung lebt in großen Städten. Diese Enge könne Stress verursachen und die Menschen krank machen, sagt Ulrich Lilie. Er plädiert dafür, über Einsamkeit zu sprechen. Denn die Tabuisierung des Gefühls führe dazu, dass sich das "Virus" weiter ausbreiten könne.

Gerade jetzt sollten wir Verantwortung füreinander übernehmen und auf die Menschen zugehen, die in der Pandemie zu vereinsamen drohen, fordert der Diakonie-Präsident:  "Wir müssen sicherlich Abstand halten. Aber das heißt ja nicht, dass wir nicht zusammenhalten können. Zusammenhalten müssen wir im Moment besonders".

Text: Ann-Kristin Herbst, Fotos: Shutterstock.

Weitere Informationen
Ein Artikel zum Thema:
Behinderung und Teilhabe

Ulrich Lilie und die Einsamkeit
Diakonie-Präsident Ulrich Lilie schreibt derzeit gemeinsam mit Dr. Johann Hinrich Claussen, Kulturbeauftragter der Evangelischen Kirche Deutschland, an einem Buch über das Thema Einsamkeit. Unter anderem geht es um die psychologische Forschung und die gesellschaftlichen Bedingungen, die Einsamkeit begünstigen. Das Buch soll voraussichtlich im Herbst 2021 erscheinen.