Interview Prof. Dr. Tanja Sappok
Frau Professor Sappok, was möchten Sie in Ihrer neuen Tätigkeit für die Behindertenmedizin erreichen?
Tanja Sappok Ich möchte Medizinstudierende für dieses Themenfeld begeistern und fitmachen. Damit sie gute Ärztinnen und Ärzte werden, die Menschen mit Behinderungen gerecht werden. Außerdem möchte ich ein strukturiertes Lehrkonzept entwickeln, das auch das Interesse anderer Universitäten weckt, sodass diese spezielle Art medizinischer Behandlung an weiteren Standorten ermöglicht wird. Und ich möchte Forschung und wissenschaftliches Arbeiten etablieren. Dort besteht noch erheblicher Bedarf, um eine gute, evidenzbasierte Medizin für Menschen mit Behinderungen anzubieten.
Wie würden Sie den Zustand der Behindertenmedizin in Deutschland beschreiben?
Sappok In der medizinischen Behandlung von Menschen mit einer geistigen Behinderung waren lange nur wenige Expertinnen und Experten tätig. Es gibt daher nur wenige Behandlungsangebote. Die Finanzierung ist unzureichend, und die Versorgungsstrukturen entsprechen nicht den medizinischen Notwendigkeiten. Immerhin: Einen Schub gab es 2015 mit der Einführung der Medizinischen Zentren für Erwachsene mit Behinderung. Seitdem entstehen deutschlandweit Ambulanzen, und somit steigt auch die Anzahl spezialisierter Ärztinnen und Ärzte sowie weiteren Fachpersonals.
Und wie steht Deutschland im weltweiten Vergleich da?
Sappok Bei uns steckt die Behindertenmedizin im Vergleich zu anderen Ländern noch in den Kinderschuhen. In Großbritannien etwa oder in den Niederlanden gibt es schon lange medizinische Lehrstühle und etablierte Versorgungsstrukturen. Auf der anderen Seite sind in Osteuropa oder Asien noch weniger Behandlungsangebote vorhanden als in Deutschland. Wir bewegen uns im guten Mittelfeld, doch es gibt erheblichen Nachholbedarf, um Menschen mit Behinderungen ein gesundes, langes Leben zu ermöglichen.
Viele Ärztinnen und Ärzte sind überfordert, wenn sie Menschen mit einer kognitiven Beeinträchtigung in ihrer Praxis haben. Je besser sie auf eine solche Situation vorbereitet sind, desto größer wird der Behandlungserfolg, sagt Universitätsprofessorin Tanja Sappok.
Warum braucht es eine Medizin speziell für Menschen mit Behinderungen?
Sappok Einerseits aus fachlichen Gründen: Viele Behinderungen sind genetisch bedingt oder gehen einher mit Störungsbildern wie Autismus, die in der Allgemeinbevölkerung nur selten vorkommen. Ärztinnen und Ärzte müssen diese Krankheitsbilder kennen, um sie korrekt zu diagnostizieren und zu behandeln. Mindestens genauso wichtig ist die Gestaltung des Umgangs und der Untersuchung: Viele Ärztinnen und Ärzte sind überfordert, wenn sie Menschen mit einer kognitiven Beeinträchtigung in ihrer Praxis haben, der nicht sprechen kann. Je besser sie auf eine solche Situation vorbereitet sind, desto größer wird der Behandlungserfolg.
Eine gute Kommunikation zwischen Mediziner und Patient ist wichtig für den Behandlungserfolg.
Worauf ist bei der medizinischen Behandlung von Menschen mit Behinderungen besonders zu achten?
Sappok Eine große Herausforderung besteht darin, eine gute Zusammenarbeit aller Beteiligten zu erreichen – mit den Betroffenen selbst, aber auch mit ihren Familien, Freunden und denen, die sie im Lebensalltag unterstützen. Voraussetzungen dafür sind eine gute Kommunikation und die Bereitschaft, individuelle Lebens- und Behandlungskonzepte zu entwerfen, die sich an den Werten, Wünschen und Bedarfen der behandelten Person orientieren. Auch in Bezug auf die geäußerten Beschwerden bedarf es einer besonderen Sensibilität, um diese richtig einzuordnen und zu behandeln.
Worauf werden Sie in der Ausbildung der Studierenden den größten Wert legen?
Sappok Meine Vision ist, dass unsere Medizinstudierenden sich als Ärztinnen und Ärzte freuen, wenn sie Menschen mit Behinderungen in ihrer Praxis oder Klinik begegnen. Dass sie mit Freude in den Kontakt und in die Behandlung gehen, dass sie das als Bereicherung erleben und sich sicher fühlen. Denn nur das, was man mit Spaß macht, macht man gut.
Welche Veränderungen möchten Sie in Ihrer Funktion als Direktorin der neuen Universitätsklinik für Inklusive Medizin am Krankenhaus Mara umsetzen?
Sappok Gegenwärtig werden in Mara Menschen mit Behinderungen und internistischen oder chirurgischen Krankheitsbildern behandelt. Nun kommt die Behandlung psychischer Krankheitsbilder hinzu. Die Behandlungsprozesse und -abläufe so zu entwickeln, dass die drei Fachrichtungen und das multiprofessionelle Behandlungsteam Hand in Hand in der Diagnostik und Therapie zusammenarbeiten, wird eine große Herausforderung. Mir schweben gemeinsame Visiten, Fallkonferenzen und Diskussionsrunden vor, genauso gemeinsame Fortbildungen und wissenschaftliche Projekte, um diesen inter- und transdisziplinären Ansatz in die Praxis umzusetzen.
Tanja Sappoks Behandlungsansatz: "Der Mensch soll im Mittelpunkt stehen, die Fachrichtungen sollen sich um ihn gruppieren. Und je nach Krankheit wird dann diejenige Fachrichtung aktiv, die die jeweilige Expertise mitbringt."
Inwieweit lässt sich der Ansatz in Einklang bringen mit dem, was das deutsche Gesundheitssystem vorsieht?
Sappok Das Gesundheitssystem ist darauf ausgerichtet, dass die Fachrichtungen auf verschiedene Abteilungen verteilt werden und sich gegenseitig nur punktuell hinzuziehen. Wir möchten das anders machen. Ich glaube, dass ein gemeinsam entwickelter und umgesetzter Behandlungsplan der richtige Ansatz ist, um Menschen mit Behinderungen gerecht zu werden. Der Mensch soll im Mittelpunkt stehen, die Fachrichtungen sollen sich um ihn gruppieren. Und je nach Krankheit wird dann diejenige Fachrichtung aktiv, die die jeweilige Expertise mitbringt. Um dieses innovative Konzept gut auszuarbeiten und in die Tat umzusetzen, müssen wir mit Akteuren aus der Politik genauso wie mit den Kostenträgern und der Ärztekammer in Kontakt sein. Erste Gespräche habe ich geführt. Dabei habe ich eine große Offenheit und Bereitschaft gespürt, gemeinsam neue Wege zu gehen.
Das Gespräch führte Philipp Kreutzer, von Bodelschwinghsche Stiftungen Bethel; Fotos: EVK, Elke Schöps/Bethel, Shutterstock, Unsplash
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Persönlich
Professor Dr. Tanja Sappok (52) stammt aus Heidelberg und war bislang am zu Bethel gehörenden Evangelischen Krankenhaus Königin Elisabeth Herzberge (KEH) in Berlin tätig. Im KEH leitete die Fachärztin für Neurologie, Nervenheilkunde und Psychiatrie und Psychotherapie als Chefärztin das Behandlungszentrum für psychische Gesundheit bei Entwicklungsstörungen.