20. April 2021

Impfungen in der Eingliederungshilfe

Erkämpfte Rechte schützen

Jeder neunte Mensch in NRW hat eine Schwerbehinderung. Viele von ihnen sind in der Corona-Pandemie gesundheitlich besonders gefährdet. Deshalb möchte sich der Großteil so schnell wie möglich impfen lassen. Doch es gibt auch viele Ängste. "Die müssen wir ernst nehmen", betont Tobias Lamers, Teamleiter Eingliederungshilfe in unserer neuen Folge der Reihe #ärmelhoch. 

  • Ursula Kruck wird in ihrer eigenen Wohnung ambulant unterstützt. Sie hat sich impfen lassen.
  • Beate Langkopf arbeitet im Ambulanten Wohnen der Diakonie Michaelshoven. Sie hat sich gegen das Corona-Virus impfen lassen, weil sie bei ihrer Freundin gesehen hat, was die Erkrankung anrichten kann.
  • Axel Baltzer arbeitet im Ambulanten Wohnen der Diakonie Michaelshoven: "Ich lasse mich impfen, weil ich mich und andere nicht anstecken möchte."
  • Nicole Schellenberg-Heising arbeitet im Ambulanten Wohnen der Diakonie Michaelshoven. Im Foto steht sie vor dem Impfzentrum und sagt: "Ich lasse mich impfen, weil ich meine Familie und Freunde schützen möchte."
  • Marius Schröder arbeitet in der Diakonischen Stiftung Wittekindshof als Heilerziehungspfleger. Er lässt sich impfen, um seine Klienten und sich zu schützen. Und weil er seinen Beruf liebt.

Wie läuft es mit der Impfkampagne in der Eingliederungshilfe?

Es nimmt langsam Fahrt auf. Bis Ende April sollen die Impfungen abgeschlossen sein. Vor allem in den Werkstätten wurde ein Großteil der Beschäftigten bereits geimpft. Jetzt werden die besonderen Wohnformen versorgt.

70 bis 95 Prozent der Menschen in der Eingliederungshilfe lassen sich impfen. Das ist im Vergleich zu anderen Fachbereichen extrem hoch. Wie ist das zu erklären?

Die Menschen in den Einrichtungen sehnen sich nach Normalität. Ihr Alltag wurde von einem Tag auf den anderen komplett über den Haufen geworfen. Es leben ja auch viele junge Menschen in den Wohngruppen und in eigenen Wohnungen. Denen fällt es extrem schwer, jeden Kontakt zu vermeiden, der sie gefährden könnte.

Wir sind sehr froh, dass sich so viele impfen lassen. Die Menschen mit Behinderung wissen, wie gefährlich das Virus für sie werden kann. Die Schutzimpfung gibt ihnen mehr Sicherheit. In den Werkstätten und den Wohngruppen wird seit Wochen in verständlicher Sprache über die Impfung informiert. Und auch diskutiert: Warum ist sie wichtig? Was sind das für Impfstoffe? Welche Impfreaktionen können auftreten? Wir sprechen natürlich über die Ängste der Menschen und nehmen diese sehr ernst.

Tobias Lamers, Teamleiter Eingliederungshilfe bei der Diakonie RWL

Selbstbestimmung auch in der Pandemie: Tobias Lamers, Teamleiter Eingliederungshilfe, setzt sich dafür ein, dass die Mitarbeitenden Menschen mit Behinderung auf Augenhöhe beraten und unterstützen.

Sehen Sie die Gefahr, dass Erfolge der Inklusion in der Pandemie zu Nichte gemacht werden?

Vereinzelt merke ich schon, dass so mancher oder so manche dazu neigt, für die Menschen mit Behinderung zu entscheiden. Da steckt oft der Glaube dahinter, dass sie mit einem schnellen und konsequenten Handeln besser geschützt werden können. Doch wir müssen auch in der Pandemie sicherstellen, dass die Menschen über ihr eigenes Leben bestimmen können.

Mir ist bewusst, dass die Einrichtungen da in ein Dilemma kommen. Sie tragen  Verantwortung für die Bewohnerinnen und Bewohner und wollen verhindern, dass es zu einem Ausbruch des Virus kommt. Gleichzeitig dürfen sie nicht über die Köpfe der Menschen hinweg entscheiden. Wir müssen uns davor hüten, eine falsche Angst zu entwickeln und stattdessen den Menschen auf Augenhöhe begegnen, erklären und sie ernst nehmen.

Aber in einigen Wohngruppen ist es zu schweren Corona-Ausbrüchen gekommen.

Das war schrecklich. Die Wohngruppen sind wie kleine Familien. Steckt sich da einer oder eine an, ist das extrem belastend. Es gab sogar Einrichtungen, in denen junge Menschen am Corona-Virus gestorben sind. Solch ein plötzlicher Tod ist ein unheimlicher Schock für die anderen in der Wohngruppe und für die Mitarbeitenden. Die meisten Menschen, die in einer Einrichtung der Eingliederungshilfe arbeiten, haben keinen Kontakt zum Tod. Sie arbeiten in der Regel mit jungen Menschen, die ihr Leben noch vor sich haben. Das ist ganz anders als in den Senioren- und Pflegeheimen. Da ist dann viel Unterstützung bei der Trauerbewältigung nötig. Trotzdem können wir gerade die jungen Menschen nicht einfach "wegschließen" oder die Impfung "verordnen".

In der stationären Altenhilfe startete die Impfkampagne bereits an Weihnachten. In den Werkstätten ging es erst im März los. Können Sie das nachvollziehen?

Wir haben nun mal noch immer zu wenig Impfstoff. Dass erst die Seniorenheime versorgt wurden, war ethisch geboten und richtig. Die Eingliederungshilfe hätte aber viel schneller nachziehen müssen. Das habe ich nicht verstanden, warum wir da nicht früher berücksichtigt wurden.

Und auch jetzt: Die Behindertenhilfe leistet Enormes. In den Werkstätten wurden innerhalb von Tagen professionelle Impfzentren hochgezogen, in denen mehr als tausend Menschen geimpft wurden. Der komplizierten Verwaltung zum Trotz muss ich sagen. Denn die Einrichtungen müssen noch immer jede einzelne Quittung einreichen, um Corona-bedingte Mehrausgaben abrechnen zu können. Da müssten wir nach einem Jahr Pandemie schon viel weiter sein.

Das Interview führte Ann-Kristin Herbst.
Fotos: Shutterstock (Teaserfoto), Alexandra Dicks/ Diakonie Michaelshoven (Fotos im Slider), Wittekindshof (letztes Foto im Slider) und privat.

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