28. Mai 2024

Diskussion um ambulante Zwangsbehandlungen

Vertrauen stärken, ohne Druck

Darf ich Menschen mit einer psychischen Krankheit gegen ihren Willen in ihrem privaten Umfeld sedieren? Eine Tagung in Süddeutschland spricht sich dafür aus. Warum Zwangsbehandlungen niemals im ambulanten Bereich stattfinden dürfen und welche Alternativen es gibt, erklären die Diakonie RWL-Experten Alexander Engel und Martin Lindheimer im Interview.

  • Pflegebedürftiger mit Tabletten in der Hand
  • Alexander Engel im Gespräch mit Martin Lindheimer
  • Alexander Engel (links) im Gespräch mit Martin Lindheimer.
  • Martin Lindheimer im Gespräch mit Alexander Engel.
  • Alexander Engel (links) und Martin Lindheimer

Was ist unter Zwangsmaßnahmen zu verstehen?

Alexander Engel: Es gibt verschiedene Formen von Zwang, die unsere diakonischen Arbeitsbereiche in der Eingliederungshilfe, Altenhilfe, rechtlichen Betreuung oder ambulante Betreuungsdienste betreffen können. Die Zwangsbehandlung meint immer eine medizinische Heilbehandlung gegen den Willen einer Person. Das kann zum Beispiel eine Medikamentengabe oder eine Zahnarztbehandlung sein. Außerdem gibt es freiheitsentziehende Maßnahmen. Darunter fallen zum Beispiel das Feststellen von Rollstühlen, die ich nicht selbst lösen kann, Bettgitter oder Fixierungen, also eine absolute Bewegungseinschränkung.

Medizinische Eingriffe unter Zwang sind derzeit nur im Ausnahmefall im stationären Kontext möglich, also im Krankenhaus oder in der Psychiatrie. Im ambulanten Bereich sind Zwangsbehandlungen verboten – und das ist auch gut so.

Martin Lindheimer: Hier ist auch das Recht zur Krankheit wichtig: Menschen dürfen sich krank verhalten und ihrer Gesundheit schaden, also zum Beispiel rauchen oder die Einnahme von Medikamenten verweigern. Das Recht auf Krankheit ist ein wichtiges demokratisches Gut.

Alexander Engel im Gespräch mit Martin Lindheimer

"Maßnahmen, die in die Grundrechte von Menschen eingreifen, dürfen nur die allerletzte Möglichkeit sein", so Alexander Engel.

Welche Voraussetzungen müssen für die Zwangsmaßnahmen erfüllt sein? 

Engel: Wir bewegen uns zwischen dem Recht auf Selbstbestimmung und der staatlichen Schutzfunktion von Menschen, die krankheitsbedingt ihren Willen nicht bilden oder Konsequenzen nicht abschätzen können. In diesem Fall ist es mithilfe einer gerichtlichen Entscheidung möglich, zwangsweise behandelt zu werden.

Es gilt der Erforderlichkeitsgrundsatz: So massive Maßnahmen, die in die Grundrechte von Menschen eingreifen, dürfen nur die allerletzte Möglichkeit sein. Es ist wichtig, vorher alles dafür zu tun, dass kein Zwang angewandt werden muss.

Was bedeutet das für den ambulanten Kontext? 

Engel: Medizinische Zwangsbehandlungen dürfen nicht in der eigenen Häuslichkeit stattfinden – also auch nicht in der Eingliederungs- oder Altenhilfe in dem Zimmer, das die Person bewohnt. Das eigene Zuhause ist besonders geschützt.

Was bedeutet das in der Praxis? 

Engel: Wenn Sie beispielsweise eine Zahnarztbehandlung bräuchten, das aber aufgrund Ihrer Demenz nicht verstehen und sich dagegen wehren, dann müssten Sie in eine Klinik gebracht werden, um die Behandlung dort vorzunehmen, wenn ohne diese Behandlung eine so erhebliche gesundheitliche Gefährdung entstehen würde, die einen solchen Eingriff rechtfertigen würde. Es gibt Menschen, die sagen, dass es besser wäre, wenn Sie diese Behandlung in Ihrem Zimmer im Pflegeheim vornehmen könnten, statt aus dem gewohnten Umfeld gerissen zu werden. 

Wir aber sagen ganz klar: Es darf keine ambulanten Zwangsbehandlungen geben! Jede Zwangsbehandlung führt zu einem massiven Verlust von Vertrauen in die Umgebung, einem starken Gefühl der Angst und Bedrohung.

Martin Lindheimer im Gespräch mit Alexander Engel.

"Medizinische Behandlungen sind nie frei von Nebenwirkungen", sagt Martin Lindheimer.

Welche Folgen haben Behandlungen gegen den eigenen Willen?

Lindheimer: Zwangsbehandlungen können einen erheblichen Schaden anrichten. Medizinische Behandlungen sind nie frei von Nebenwirkungen. Neuroleptika haben beispielsweise starke Nebenwirkungen wie eine verkürzte Lebenserwartung. Viele Menschen, die mit Neuroleptika behandelt werden, reagieren außerdem nicht auf sie und sind Non-Responder (vgl. Aderhold/Schlimme/Weinmann).

Engel: Damit die medizinische Behandlung gegen den Willen der betroffenen Person überhaupt durchgeführt werden kann, ist Zwang nötig. Diese Zwangssituation kann massiv traumatisieren. 

Lindheimer: Daraus ergibt sich die Frage: Wie kann ich dieses Trauma wieder auffangen? Eventuell entwickelt die Person zu ihrer Vorerkrankung eine posttraumatische Belastungsstörung.

Was bedeutet eine Zwangsbehandlung für das Vertrauensverhältnis in den Einrichtungen und ambulanten Diensten? 

Lindheimer: Die ambulanten Betreuungsdienste benötigen für ihre Arbeit ein gutes Vertrauensverhältnis zu den Menschen. Dieses Vertrauensverhältnis entsteht nur, wenn man auf einer freiwilligen Basis zusammenarbeitet. Soziale Arbeit ist eine Menschenrechtsprofession und auf Freiwilligkeit ausgerichtet. Das steht in einem krassen Widerspruch zur ambulanten Zwangsbehandlung.

Alexander Engel (links) im Gespräch mit Martin Lindheimer.

"Es gibt keinen Grund, Zwangsbehandlungen im ambulanten Bereich durchzuführen", so Martin Lindheimer.

Was spricht noch gegen ambulante Zwangsmaßnahmen?

Lindheimer: Wir haben eine flächendeckende psychiatrische Versorgung. Es gibt also keinen Grund, Zwangsbehandlungen im ambulanten Bereich durchzuführen. Auch im stationären Kontext widersprechen Zwangsbehandlungen den Menschenrechten. Artikel 14 der UN-Behindertenrechtskonvention sagt ganz klar, dass das Vorliegen einer Behinderung in keinem Fall einen Freiheitsentzug rechtfertigt – auch nicht bei Selbstgefährdung.

2023 gab es die Staatenprüfung von Deutschland. Das zentrale Ergebnis war, dass es ein Verbot von Zwangsmaßnahmen im Gesundheitssystem geben muss. Die UN-Behindertenrechtskonvention kritisiert, dass in Deutschland Menschen, sogar Kinder, zur Behandlung eingesperrt werden können. Auch die neuen Leitlinien der Weltgesundheitsorganisation (WHO) für Menschen im psychischen Bereich sprechen dafür, auf Zwang zu verzichten.

Welche Alternativen gibt es zu Zwangsmaßnahmen? 

Lindheimer: Statt Zwang anzuwenden, können wir durch Argumente überzeugen. Langfristig helfen eine Psychotherapie oder bei Bedarf eine teilstationäre Behandlung, beispielsweise in einer Tagesklinik. Außerdem gibt es Krisenzimmer, Krisenwohnungen oder Krisendienste, die jederzeit erreichbar sind und die man freiwillig nutzen kann in einer akuten Situation. Wir brauchen Ressourcen und Ansätze, die ambulanten Strukturen ohne Zwang zu stärken.

Alexander Engel (links) und Martin Lindheimer

Alexander Engel (links) und Martin Lindheimer sprechen sich klar gegen ambulante Zwangsmaßnahmen aus.

In Süddeutschland wird derzeit diskutiert, ambulante Zwangsbehandlungen zu normalisieren. Wie blicken Sie auf diese Debatte?

Lindheimer: Bereits 2003 und 2005 gab es Versuche, ambulante Zwangsmaßnahmen einzuführen. Diese Versuche sind allerdings im Bundestag und vor den Bundesgerichten gescheitert. Als größter diakonischer Landesverband ist es für uns wichtig, jetzt klar Position zu beziehen. Wir hoffen, dass andere unserer Haltung folgen und sich ebenfalls deutlich gegen ambulante Zwangsbehandlungen äußern.

Engel: Beim Bundesverfassungsgericht ist gerade ein Verfahren zu ambulanten Zwangsmaßnahmen anhängig: Ein Betreuer hat geklagt, um ambulante Zwangsbehandlungen durchführen zu können. Derzeit läuft das Anhörungsverfahren dazu, in dem auch die Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege gehört wird. Wir sind aber optimistisch, dass das Bundesverfassungsgericht sich so wie in den letzten Jahren auch klar gegen ambulante Zwangsbehandlungen positioniert. Denn ambulante Zwangsbehandlungen widersprechen eindeutig den Menschenrechten.

Die Fragen stellte Jana Hofmann. Fotos: Diakonie RWL/Jana Hofmann, Shutterstock

Ihre Ansprechpartner/innen
Alexander Engel
Zentrum Eingliederungshilfe
Martin Lindheimer
Zentrum Eingliederungshilfe
Weitere Informationen

Der Jurist Alexander Engel ist seit Februar 2024 Leiter des Zentrums Eingliederungshilfe. Martin Lindheimer ist Referent im Zentrum und für Soziale Teilhabe seelisch behinderter Menschen zuständig.