27. April 2020

Behindertenhilfe in der Corona-Krise

Die übersehene Risikogruppe

In Deutschland leben knapp 13 Millionen Menschen mit einer Beeinträchtigung. Das Risiko, schwer am Covid 19-Virus zu erkranken, ist bei vielen hoch. Trotzdem kommen sie in der Diskussion um Schutzmaßnahmen kaum vor. Ihre Situation wird einfach mit dem Alltag in Pflegeheimen gleichgesetzt. Die diakonischen Stiftungen Hephata und Eben-Ezer sehen das mit Sorge.

  • Luftbild einer Behindertenwerkstatt der Stiftung Hephata mit Stempel "geschlossen"
  • Stopp Corona: In allen Wohneinrichtungen und  der Werkstatt der Stiftung Eben-Ezer ist seit dem 23.März das Betretungsverbot im Kraft.
  • Maskennähen bei der Upcycling Firma Mano nella Mano der Stiftung Hephata
  • Selbstgenähte Masken der Stiftung Hephata
  • Steinbemalungsaktion in einer Wohngruppe der Stiftung Hephata

"Diese Zeit finde ich gerade aufwühlend", erklärt Stephan in einem Video auf Youtube. "Man fragt sich, was passiert, wenn ich das Virus bekomme, drehen dann alle am Rad, werde ich ausgegrenzt?" Stephan hat eine psychische Beeinträchtigung und lebt im ambulant betreuten Wohnen der Evangelischen Stiftung Hephata in Mönchengladbach. Als Mitglied des Social Media Teams der Stiftung berichtet er regelmäßig über seinen Alltag in der Corona-Pandemie. Trotz Telefonaten mit Familie und Freunden, kurzen Einkaufstouren oder Spaziergängen um den Block hat der Tag für ihn derzeit "gefühlt" mehr als 24 Stunden.

Langeweile und Angst, Einsamkeit und Anspannung – All das ist schwer auszuhalten. Erst recht für Menschen mit einer geistigen Behinderung, die nicht wirklich verstehen, was eine Pandemie ist und warum sie ihr Alltagsleben so stark einschränkt. "Für sie ist es besonders schwer, sich an das Kontakt- und Besuchsverbot zu halten", sagt Vorstand Christian Dopheide. "Unsere Mitarbeitenden haben alle Hände voll zu tun, die Lage zu erklären, für die Einhaltung der Regelungen und Beschäftigung zu sorgen."

Dr. Christian Dopheide, Theologischer Vorstand der Evangelischen Stiftung Hephata

Dr. Christian Dopheide, Theologischer Vorstand der Evangelischen Stiftung Hephata (Foto: S. Damaschke)

Bastel-und Gartenarbeit statt Werkstatt

Schließlich sind die Werkstätten schon seit Mitte März geschlossen. Die Mitarbeitenden unterstützen nun die Assistenten in den Wohngruppen. Ein Teil der Arbeit werde als Heimarbeit geleistet. Doch meistens gehe es eher darum, mit Bastel- und Gartenarbeiten, Spiel und Musik den Tag der Menschen in den Wohngruppen zu strukturieren, berichtet Dopheide.

Keine leichte Aufgabe, denn Hephata betreut rund 1.600 Menschen an 150 Standorten in NRW. Keine Wohneinheit hat mehr als 24 Bewohnerinnen und Bewohner. Die dezentrale Struktur entspricht dem Gedanken der Teilhabe. Die Menschen mit Beeinträchtigung sollen möglichst selbstständig leben und sich selbst versorgen. Das aber erschwert eine Kontrolle der Besuchs- und Kontaktverbote. Es kann schneller zu Infektionen kommen. Aufgrund der kleinen Wohneinheiten würden sich diese aber nicht direkt auf so viele Menschen auswirken, erklärt Dopheide. "Allerdings wird es uns hart treffen, wenn Mitarbeitende wegen Corona in Quarantäne müssen. Bei unserer dezentralen Struktur ist es nicht einfach, das fehlende Personal zu ersetzen."

Luftbild der Evangelischen Stitfung Eben-Ezer in der Region Lippe

Die Wohneinheiten der Evangelische Stiftung Eben-Ezer liegen nah beisammen. 

Der Vorteil kurzer Wege

Die Evangelische Stiftung Eben-Ezer hat damit weniger Probleme. Sie betreut knapp 1.000 Menschen mit Beeinträchtigungen in der Region Lippe. Gut ein Drittel von ihnen lebt auf zwei größeren Stiftungsgeländen. Auch bei Eben-Ezer werden die meisten Klientinnen und Klienten in eigenen Wohnungen oder in gemeinschaftlichen 24-er Wohnanlagen begleitet und betreut. Aber die Wege zwischen den dezentralen Einheiten und Werkstätten, Serviceangeboten wie Küche und Wäscherei sowie dem Medizinisch-Psychologisch-Therapeutischen Bereich mit einer vorsorglich eingerichteten Quarantänestation sind aufgrund der Überschaubarkeit des Kreisgebietes nah.

"In der Corona-Krise sind wir damit gut aufgestellt", meint Vorstand Bartolt Haase. "Wir können schnell reagieren, falls es zu Infektionen und Erkrankungen kommt, Isolier- und Quarantänestationen einrichten und sind inzwischen auch mit genügend Schutzmaterialien ausgestattet, die unsere Werkstattmitarbeitenden zum Teil selbst genäht haben." Dennoch macht sich der Vorstand große Sorgen um die Menschen, die sie bei der Stiftung Eben-Ezer betreuen. "Die Hälfte ist schwerstmehrfach behindert und gehört damit zur Hochrisikogruppe. Zudem haben wir viele ältere Menschen mit Beeinträchtigungen."

Dr. Bartolt Haase, Theologischer Vorstand der Evangelischen Stiftung Eben-Ezer

Dr. Bartolt Haase, Theologischer Vorstand der Evangelischen Stiftung Eben-Ezer

Nur "miterwähnt", nicht mitgedacht

Haase ärgert, dass sie in den öffentlichen Diskussionen um Schutzmaßnahmen, aber auch in politischen Erlassen wie der jüngsten Corona-Aufnahme-Verordnung immer nur "miterwähnt" werden. "Die Lebenswirklichkeit der Menschen mit Behinderung ist eine ganz andere als die von älteren Menschen, die in Senioren- und Pflegeheimen leben", betont er. "Wir brauchen daher andere Möglichkeiten und Konzepte, um sie vor Infektionen und schweren Erkrankungen durch das Corona-Virus zu schützen."

Haase wie auch Dopheide setzen deshalb auf eine gute Vernetzung in ihrer Region und regional flexible Regelungen hinsichtlich der Isolierungs- und Quarantänebestimmungen. Die Zusammenarbeit mit den Behörden vor Ort, den Gesundheitsämtern und Landschaftsverbänden sei bislang gut, betonen sie.

Klientinnen und Klienten mit Mitarbeitenden der Stiftung Eben-Ezer basteln im Garten einer der Wohnanlagen

Machen das Beste aus der Situation : Klientinnen und Klienten mit Mitarbeitenden der Stiftung Eben-Ezer im Garten einer der Wohnanlagen

Kreativ, gut vernetzt und technisch versiert

Diesen Eindruck bestätigt auch Sozialwirt Tobias Lamers. Er ist bei der Diakonie RWL für 81 Träger der Behindertenhilfe zuständig, die insgesamt über 16.500 Plätze für Menschen mit Beeinträchtigungen anbieten. "Ich bin beeindruckt, mit welcher Kreativität die Einrichtungen in dieser Krise agieren", sagt er. "Träger- und sogar verbandsübergreifend helfen sie sich aus, indem Personal aus den Werkstätten nun in Wohneinrichtungen arbeitet, Schutzkleidung organisiert und Isolierstationen eingerichtet werden."

Vielerorts würden Telefonate, Videokonferenzen und Messengerdienste genutzt, um die ambulante Betreuung trotz Kontakt- und Besuchsverbots sicherzustellen. "Bei den Landschaftsverbänden haben wir uns dafür stark gemacht, dass sie auch diese Leistungen, die derzeit nicht persönlich erbracht werden können, bezahlen."

Madlen Engelhardt, Regionalleitung Lemgo West und Sprecherin des Geschäftsbereichs Wohnen der Stifung Eben-Ezer

Madlen Engelhardt, Regionalleitung Lemgo West und Sprecherin des Geschäftsbereichs Wohnen der Stifung Eben-Ezer

Recht auf Selbstbestimmung schützen

Doch was ist mit dem Gedanken der Teilhabe und Selbstbestimmung, der Idee einer inklusiven Gesellschaft? In Zeiten der Pandemie, wenn die Freiheitsrechte aller Menschen massiv eingeschränkt sind, lässt sich das kaum realisieren. "Ich habe die Befürchtung, dass die guten Schritte, die wir mit dem Bundesteilhabegesetz gegangen sind, nun gestoppt werden", sagt Madlen Engelhardt, Regionalleiterin des Geschäftsbereiches Wohnen bei der Stiftung Eben-Ezer. "Wir müssen sehr wachsam sein, damit das Recht auf Selbstbestimmung und Teilhabe nicht eingeschränkt bleibt, wenn die Schutzmaßnahmen gelockert werden."

Hephata-Vorstand Christian Dopheide hofft indessen auf ein Umdenken in Politik und Gesellschaft, wenn die Corona-Krise überwunden ist. "Was wir alle gerade an Freiheitsverlust und Isolation erleben, prägt den Alltag vieler Menschen mit Beeinträchtigungen seit Jahren. Ich hoffe einfach, dass diese Erfahrung der Mehrheitsgesellschaft den 13 Millionen Menschen mit Beeinträchtigung in unserem Land und ihrem Wunsch nach Teilhabe zugutekommt."

Text: Sabine Damaschke, Fotos: Evangelische Stiftungen Hephata und Eben-Ezer