Zwei Jahre Teilhabechancengesetz
Für Karin Kuschmierz ist es immer wieder ein kleiner Glücksmoment, wenn sie morgens ihre Bürotür aufschließt. Auf dem Schild steht ihr Name. Sie hat einen eigenen Schreibtisch und Computer. Seit zwei Jahren ist sie beim diakonischen Beschäftigungsträger Neue Arbeit Essen sozialversicherungspflichtig beschäftigt, in Vollzeit und einem Tätigkeitsfeld, das sie liebt. In der Abteilung "Mobiler Sozialer Dienst" koordiniert die 58-jährige Bürohelferin die Einsätze der Mitarbeiter, die alte und pflegebedürftige Menschen in Essen zum Arzt begleiten, für sie putzen oder einkaufen.
"Endlich bin ich wieder mittendrin", sagt sie. "In der Arbeitswelt habe ich ein kleines Stück vom großen Kuchen abbekommen." Über sieben Jahre war die alleinerziehende Mutter arbeitslos. Bewerbungstrainings, Qualifizierungen, Ein-Euro-Jobs – Karin Kuschmierz hat alles mitgemacht, aber keine Stelle gefunden. "Mit jeder Absage wurde ich unsicherer und ängstlicher. Zum Schluss habe ich mir gar nichts mehr zugetraut und mich nur noch wie eine kleine, unwichtige Nummer gefühlt", erzählt sie.
Diakonie RWL-Arbeitsmarktexpertin Ina Heythausen wünscht sich, dass das Teilhabechancengesetz in bestimmten Fällen auch eine unbefristete Förderung ermöglicht.
Neue Chancen für 16.000 Menschen in NRW
Das neue Teilhabechancengesetz eröffnet der gelernten Verkäuferin endlich die Perspektive auf ein neues Leben mit sinnvoller Arbeit, netten Kollegen und einem richtigen Gehalt. Karin Kuschmierz gehört zu den mehr als 16.000 langzeitarbeitslosen Menschen in Nordrhein-Westfalen, die vom Teilhabechancengesetz profitieren. Ihre Stelle wird im Rahmen des seit Januar 2019 gültigen Gesetzes in den ersten beiden Jahren zu 100 Prozent vom Staat gefördert, in den Jahren danach zu 90 bis 70 Prozent. Für die sogenannte "Teilhabe am Arbeitsmarkt" stellt die Bundesregierung bis 2022 bundesweit rund vier Milliarden Euro bereit.
"In der Diakonie und Freien Wohlfahrtspflege haben wir lange dafür gekämpft, dass es mehr öffentlich geförderte Stellen für langzeitarbeitslose Menschen gibt", erklärt Diakonie RWL-Arbeitsmarktexpertin Ina Heythausen. "Denn die Erfahrungen mit Modell- und Landesprogrammen sind durchweg positiv. Die Menschen fühlen sich gebraucht und wertgeschätzt, weil sie wieder am Arbeitsleben teilnehmen. Sie bekommen Berufspraxis, entwickeln Selbstbewusstsein und haben Chancen, im Anschluss eine ungeförderte Stelle zu finden."
Für mehr als 500 Menschen in NRW enden die Fördermöglichkeiten nach dem Teilhabechancengesetz in 2021. Deren Übergang in eine nicht geförderte Stelle könne angesichts der coronabedingten Situation am Arbeitsmarkt jedoch eine große Herausforderung werden, gibt Ina Heythausen zu bedenken.
Jessica Weiner ist bei der NEUE ARBEIT Essen für arbeitsmarktpolitische Projekte zuständig.
Fit machen für eine unbefristete Stelle
Bei der NEUE ARBEIT Essen sind mittlerweile 178 langzeitarbeitslose Menschen über das Teilhabechancengesetz eingestellt worden. Sie arbeiten im Garten- und Landschaftsbau, in der Designerwerkstatt "Kronenkreuz", in der Oldtimerwerkstatt oder bei "Essen für Kids", einem Cateringservice für Kitas und Grundschulkinder. Bis zu fünf Jahre lang können sie dort beschäftigt werden.
Doch so lange sollen sie nach Möglichkeit nicht bleiben. Das Ziel des Essener Beschäftigungsträger ist es, die Mitarbeitenden nach zwei bis drei Jahren zu einem örtlichen Arbeitgeber zu vermitteln, der sie dann weiter im Rahmen des Teilhabechancengesetzes beschäftigt und danach unbefristet übernimmt. Bislang ist das bereits in sechs Fällen gelungen.
"Als Beschäftigungsträger haben wir natürlich den Ehrgeiz, Menschen für einen unbefristeten Job auf dem ersten Arbeitsmarkt fit zu machen", erklärt Jessica Weiner, die bei der NEUE ARBEIT für arbeitsmarktpolitische Projekte zuständig ist. "Mit dem Teilhabechancengesetz haben wir dafür jetzt mehr Zeit als sonst und das zahlt sich auch für die Arbeitgeber aus, die oft hochmotivierte und engagierte Mitarbeitende bekommen."
Karin Kuschmierz ist ständig am Telefon, um Kunden und Einsatzkräfte des "Mobilen Sozialen Dienstes" auch in der Pandemie zusammenzubringen.
Den Stresstest der Pandemie bestanden
Karin Kuschmierz jedenfalls hat die Zeit bei der NEUE ARBEIT Essen bisher gut für sich genutzt, meint ihre Fachbereichsleiterin Sonja Gordon. "Als sie zu uns kam, war sie sehr unsicher und hatte oft Angst, den Ansprüchen der Kunden nicht gewachsen zu sein. Aber in dieser Pandemie ist sie über sich selbst hinausgewachsen." Es sei keineswegs leicht gewesen, die Einsätze der Mitarbeitenden im "Mobilen Sozialen Dienst" unter den geltenden Hygiene- und Abstandsbedingungen zu koordinieren. "Karin Kuschmierz hat das mit viel Charme und Selbstbewusstsein gemanagt. Darauf kann sie stolz sein."
Und das ist die Bürohelferin. Als sie ein neues Türschild mit ihrem Namen bekommen hat, ließ sie sich das alte aushändigen. "Ich habe es zuhause laminiert", lacht Karin Kuschmierz. "Es steht dafür, dass ich in den vergangenen Jahren mehr erreicht habe als ich mir jemals zugetraut hätte."
Text und Fotos: Sabine Damaschke