Langzeitarbeitslosigkeit
2019 ist ein schwieriges Jahr für Eila Chemnitz. Ihr persönlicher Tiefpunkt. Als die Polizei damals kam, war das "ein riesiger Schock", erinnert sich die ehemalige Mitarbeiterin des Diakoniewerks Essen. Heute sagt sie: "Es war meine Rettung!" Denn bis dahin hatte sie viel durchgemacht: Sohn Florian quasi allein großgezogen. Die geliebte Mutter verloren und deren 100.000 Euro Schulden geerbt. Sich immer wieder in die falschen Typen verliebt. Für einen zieht Eila Chemnitz gemeinsam mit Florian in ein Dorf nach Hessen, bis sich kurz danach herausstellt, dass der Neue schwerer Alkoholiker ist. Ihr Sohn zieht die Reißleine, geht nach Essen zurück. Sie folgt ihm, weil die Trennung sie "fertig macht" und stürzt sich in die nächste Beziehung. Ihr Partner prügelt sie krankenhausreif. Von dort kommt sie zunächst in einem Übergangswohnheim unter und kriegt dann eine eigene Wohnung zugewiesen.
Eila Chemnitz wurde irgendwann klar: "Entweder ich kriege die Kurve oder mein Leben ist vorbei."
Kein Kontakt zur Außenwelt
Ein Teufelskreis: keine Arbeit, keine Beschäftigung, keine Tagesstruktur, keine Bewegung. Der Inaktivität folgt ein Wirbelsäulenschaden. Gehen – nur noch mit Rollator möglich. "Je mehr man wiegt, desto mehr bleibt man zu Hause, weil einem alles schwerfällt", weiß die 55-Jährige. Die Couch wird ihr Lebensmittelpunkt. Fernsehen bis vier Uhr morgens und schlafen bis zum späten Mittag – völlig raus aus dem Rhythmus, keinen Kontakt zur Außenwelt.
Der Alltag wird zur unüberwindbaren Hürde, den Haushalt kriegt sie nicht mehr geregelt. Briefe werden nicht geöffnet. Die läppische Geldstrafe fürs Schwarzfahren dadurch weder gesehen noch bezahlt. Eines Tages klingelt es. Erst die Polizei – dann die Erleuchtung: "Entweder ich kriege die Kurve oder mein Leben ist vorbei." Als sie nach drei Monaten aus der Haft entlassen wird, muss die Alleinerziehende wieder von vorne anfangen. Sie wendet sich an ihre Integrationsfachkraft vom JobCenter und bittet: "Ich brauche eine Beschäftigung!" Die kriegt sie. Kurz vor Weihnachten 2019 startet sie eine Arbeitsgelegenheit in der Logistikabteilung der Möbelbörse der AiD. Die gemeinnützige Gesellschaft für Arbeit und Beschäftigung des Diakoniewerks Essen hilft Menschen bei der individuellen beruflichen Qualifizierung.
Das Gefühl, arbeiten zu dürfen und gebraucht zu werden, hat Eila Chemnitz' Selbstwertgefühl enorm gesteigert.
Das Gefühl, gebraucht zu werden
Der Job passt zu ihr und tut ihr gut. Dabei ist der Anfang alles andere als leicht: Der Weg zur Arbeit ist für die Übergewichtige extrem mühsam, nach einem Sturz noch schwerer. "Mich mit Bus und Bahn und zu Fuß mit Rollator zur Arbeit zu schleppen, war eine große Bürde und ging nur mit vielen Pausen und Schmerzen. Aber das Gefühl, arbeiten zu dürfen, gebraucht zu werden, das macht was mit einem!" Es steigert ihr Selbstwertgefühl enorm. Schnell übernimmt Eila Chemnitz Verantwortung, macht ihren Job so gut, dass sie einen geförderten Arbeitsvertrag annehmen kann. "Das Geld war ein nettes Beibrot, aber ich hätte es auch ehrenamtlich gemacht, weil mir die Beschäftigung wichtiger war."
Das hat sie besonders beim ersten Corona-Lockdown gespürt. Die sieben Wochen ohne Arbeit haben Eila Chemnitz schnell in alte Muster sacken lassen. Sie war kurz davor, wieder in ihren alten Trott zurückzufallen, von der Couch nicht mehr herunterzukommen. Jetzt kann Eila Chemnitz das nicht mehr passieren. "Mit länger schlafen ist nicht mehr. Selbst am Wochenende stehe ich um 8 Uhr auf", sagt sie. "Ich habe auch einen Putz- und Waschplan, ich brauche einfach die Struktur."
Eila Chemnitz hat ihre Ernährung umgestellt und stark abgenommen. Einen Rollator braucht sie deshalb nicht mehr.
"Mehr wert als Hartz IV"
In den vergangenen Monaten hat sie 20 Kilo abgenommen, der Rollator ist passé. "Ich hatte einen einzigen Termin bei der Ernährungsberaterin und habe seitdem meine Ernährung umgestellt", erzählt Eila Chemnitz stolz. Mit ihrem Weg motiviert sie auch andere, etwa ihren Sohn, der lange von Hartz IV lebte und sich – dank ihres Vorbilds – nun auch in fester Anstellung befindet. Sie hat es geschafft, sich peu à peu aus ihrem Loch heraus zu kämpfen. Auch ihre Schulden hat sie geregelt. Seit einiger Zeit läuft die Insolvenz.
Für das alles ist Eila Chemnitz dankbar: "Alles, was ich jetzt bin, hätte ich nicht ohne die Maßnahmen und meine Sozialbegleiter beim Diakoniewerk geschafft. Sie haben mich eingestellt, mir gezeigt, dass ich hier richtig bin und mir mein Selbstvertrauen zurückgegeben." So viel, dass sie sich traute, den nächsten Schritt zu gehen. Die Stellenanzeige in der Zeitung. "Ich bin mehr wert als Hartz IV", ging es ihr durch den Kopf. Ein Anruf. Mit Erfolg. Vor kurzem hat sie ihren Job auf dem ersten Arbeitsmarkt im Callcenter von Check24 begonnen. Dem Jahresvertrag soll, wenn alles gut läuft, eine Festanstellung folgen. Aber da ist sich Eila Chemnitz sicher: "Ich verfüge über die gewünschten Soft Skills wie Pünktlichkeit, Zuverlässigkeit und Teamfähigkeit."
Eila Chemnitz blickt nach vorne: "Ich will arbeiten, was für meine Rente tun und aus der Insolvenz rauskommen. Und ich hätte so gerne wieder ein Auto. Dafür spare ich. Außerdem möchte ich mein Wunschgewicht von 90 Kilo erreichen. Und ich will wieder am Leben teilhaben und Leute treffen – ins Café gehen oder an die Ruhr fahren. Ohne Job hab‘ ich mich immer geschämt. Jetzt brauche ich mich nicht mehr zu verstecken."
Der Text ist im Magazin „DIWER|S“ des Diakoniewerks Essen erschienen.
Autorin: Kathrin Michels, Fotos: Maya Claussen