Hartz IV-Sanktionen
Sanktionen für eine Verspätung von nur fünf Minuten? Das Arbeitslosenzentrum KALZ hat es schon erlebt.
Fünf Minuten zu spät und für drei Monate gibt’s nur noch das Geld für die Miete. "Und wovon soll ich jetzt leben?" Mit dieser Frage und dem Kürzungsbescheid des Jobcenters stand der Jugendliche in Hedel Wenners Büro. Immer wieder hat die Leiterin des Kölner Arbeitslosenzentrums KALZ mit Menschen zu tun, denen der Hartz IV-Regelsatz gekürzt wird, weil sie einen Termin beim Jobcenter verpasst oder auf ein Jobangebot nicht reagiert haben.
Der junge Mann, der nur fünf Minuten zu spät kam, legte mit ihrer Hilfe Widerspruch ein - und bekam vor dem Sozialgericht Recht. Doch so engagiert sind nur wenige junge Arbeitslose. "Die harten Sanktionen, die insbesondere unter 25-Jährige treffen, haben meist den Effekt, dass die Jugendlichen abtauchen", beobachtet Hedel Wenner. Sie verlieren ihre Wohnung, schlüpfen bei Freunden oder Familie unter, einige verdienen Geld auf dem Schwarzmarkt, andere werden kriminell.
In ihrer Beratung hat KALZ-Geschäftsführerin Hedel Wenner mit verzweifelten Müttern zu tun.
Kürzungen um zehn bis 60 Prozent
"Regelmäßig kommen Mütter zu uns in die Beratung, die nicht verstehen, warum das Jobcenter ihren volljährigen Kindern plötzlich kein Geld mehr überweist", erzählt die Sozialarbeiterin. Dann klären Hedel Wenner und ihr Team die erstaunten Mütter über das rigide Sanktionierungssystem auf. Hartz IV-Bezieher, die eine sogenannte "Pflichtverletzung" begehen, weil sie zu einem Termin bei ihrem Berater im Jobcenter nicht erscheinen, ein Jobangebot ablehnen oder eine berufsbildende Maßnahme abbrechen, wird die Regelleistung von 416 Euro gekürzt. Je nach Verstoß um zehn bis zu 60 Prozent.
Bei unter 25-Jährigen kann bereits der erste Verstoß zum Wegfall der Regelleistung für drei Monate führen, ausgenommen Miete und Heizung. Bei weiteren Verstößen wird gar nichts mehr gezahlt. 78 Prozent der rund 220.000 Sanktionierungen, die 2017 in NRW ausgesprochen wurden, sind auf Meldeversäumnisse zurückzuführen. Das zeigt der aktuelle Arbeitslosenreport der Freien Wohlfahrtspflege NRW. Nur etwa jede zwölfte Maßregelung wurde ausgesprochen, weil sich die Betroffenen weigerten, eine Arbeit, Ausbildung oder Qualifizierungsmaßnahme aufzunehmen oder fortzuführen.
Diakonie RWL-Vorstand Christian Heine-Göttelmann kritisiert die Sanktionsregelungen.
Sanktionen verschärfen Notlagen
"Höhe und Umfang der Leistungskürzungen stehen in keiner angemessenen Relation zur Schwere der Verstöße", kritisiert Christian Heine-Göttelmann, Vorstand der Diakonie RWL und Vorsitzender der Freien Wohlfahrtspflege NRW. "Sie lassen die Menschen nur tiefer in Notlagen und Vereinsamung rutschen." Besonders betroffen sind Hartz IV-Bezieher unter 25 Jahren. Ihnen wurde die monatliche Gesamtregelleistung im vergangenen Jahr durchschnittlich um 127 Euro gekürzt. Bei den anderen Hartz IV-Empfängern lag sie bei durchschnittlich 104 Euro.
Eine Menge Geld für Menschen, die ohnehin am Existenzminimum leben. Die Freie Wohlfahrtspflege NRW drängt deshalb darauf, die Sanktionsregelungen zu reformieren und die besonders harten Leistungskürzungen für junge Menschen abzuschaffen. Hedel Wenner geht einen Schritt weiter. Sie würde die Sanktionierungen am liebsten ganz streichen. Das hat sie im Juni schon in Berlin vor Abgeordneten des Deutschen Bundestages klargemacht. Dort war sie als Sachverständige zu einer Anhörung eingeladen, um aus ihrer über 15-jährigen Erfahrung in der Beratung mit Erwerbslosen zu berichten.
Selbst schuld an der Arbeitslosigkeit? Mit dem Gefühl kommen viele Betroffene aus dem Jobcenter.
Prinzip des "persönlichen Versagens"
"Hartz IV und sein Sanktionierungssystem definiert ein strukturelles Arbeitsmarktproblem als persönliches Versagen", kritisiert sie damals wie heute. "Darin liegt das Kernproblem des gesamten Gesetzes." Viele Arbeitslose, die das KALZ berät, haben gebrochene Berufsbiografien und nicht immer die Qualifikationen, die heute auf dem Arbeitsmarkt verlangt werden. Weitere sogenannte "Vermittlungshemmnisse" wie ein Alter über 50 Jahre oder ein Familienstand als Alleinerziehende kommen hinzu.
"Wenn unser Arbeitsmarkt sozialer wäre und für Menschen in unterschiedlichen Lebenssituationen und mit manchen Handicaps Jobs anbieten würde, bräuchten wir keine Sanktionen", betont Hedel Wenner. Die niedrigen Regelsätze, verbunden mit der Zumutbarkeit, jede Arbeit anzunehmen, die körperlich, geistig und seelisch geleistet werden könne, erzeuge bei den Menschen einen hohen Druck und enorme Ängste. "Genau das führt eben nicht zu erfolgreichen Bewerbungsgesprächen und Qualifizierungen, sondern verstärkt die Angst und Ohnmachtsgefühle."
Lieber faulenzen statt arbeiten - dieses Vorurteil hält sich hartnäckig über Hartz IV-Bezieher.
Generelles Misstrauen
Ihr leidenschaftliches Plädoyer für die Abschaffung der Sanktionen fand bei den meisten Sachverständigen und Abgeordneten allerdings wenig Gehör. "Ich war enttäuscht über das Menschenbild, das in dieser Anhörung zutage trat", erzählt sie. "Es gibt ein generelles Misstrauen gegenüber Hartz IV-Beziehern. Man will sie zur Arbeit 'erziehen' statt auf Augenhöhe mit ihnen Wege auf den Arbeitsmarkt zu suchen und dabei auch Arbeitgeber stärker in die Pflicht zu nehmen."
Dabei prüft derzeit sogar das Bundesverfassungsgericht, ob die Kürzung des Arbeitslosengeldes II mit dem Grundgesetz vereinbar ist. Noch für das laufende Jahr 2018 hat das Gericht ein Urteil angekündigt, das Hedel Wenner und die Wohlfahrtsverbände mit Spannung erwarten. "Die Grundsicherung ist mehr als eine arbeitsmarktpolitische Leistung. Sie umfasst das, was Menschen zum Leben bleibt, wenn alle Stricke reißen", betont Christian Heine-Göttelmann. "Es geht hier um nicht weniger als die grundsätzlich geschützte Würde des Menschen."
Text: Sabine Damaschke
Arbeit und Beschäftigung
Der Arbeitslosenreport NRW wird viermal im Jahr von der Freien Wohlfahrtspflege NRW veröffentlicht. Basis für die aktuellen Themen rund um Arbeitsmarkt und Erwerbslosigkeit sind Daten der offiziellen Arbeitsmarktstatistik der Bundesagentur für Arbeit. Der Arbeitslosenreport NRW ist ein Kooperationsprojekt der Freien Wohlfahrtspflege NRW mit dem Institut für Sozialpolitik und Arbeitsmarktforschung (ISAM) der Hochschule Koblenz.