Diakonie gegen Armut
Eva Peseke berät immer häufiger Menschen, die von ihrem Job kaum leben können
Einfach mal nicht aufs Geld schauen, wenn sie für ihre fünf Kinder Weihnachtsgeschenke kauft – das kennt Kirstin Kramer nicht. Seit Jahren muss die 36-jährige Mutter sparen, weil ihr Mann als Lkw-Fahrer und Lagerarbeiter nur rund 1.000 Euro nach Hause bringt. In diesem Jahr sind zumindest "ein paar kleine Weihnachtsgeschenke drin". Seit ihr Mann zu einer anderen Firma gewechselt ist, geht es der Familie finanziell etwas besser.
Eva Peseke findet klare Worte für das Schicksal der Familie Kramer. "Es ist eine Schweinerei, dass Leute 40 Stunden in der Woche arbeiten und trotzdem aufstocken müssen." Die Sozialpädagogin ist mit zwei weiteren Kollegen für die Erwerbslosenberatung der Evangelischen Stiftung Maßarbeit in Herford zuständig. Rund 3.000 Menschen nutzen dieses Angebot im Jahr. Mehr als die Hälfte der Hilfesuchenden ist dabei durchaus erwerbstätig - vom Mini-Job bis zur Vollzeit-Stelle. Und doch reicht ihr Verdienst nicht aus, um die eigene Existenz zu sichern oder eine Familie zu ernähren.
Eva Peseke mit Kollegin Kerstin von Bach
Jeder Cent wird verrechnet
"Aufstocker haben zudem die Verpflichtungen zur Mitwirkung gegenüber dem Jobcenter. Das führt zu einem deutlich höheren Aufwand und Lauferei", erklärt Mitarbeiterin Kerstin von Bach. Jeden Monat werde das Einkommen auf den Cent genau mit erhaltenen Leistungen verrechnet. Verdienstnachweise müssen vorgelegt, Aufwendungen wie die Fahrten zur Arbeit nachgewiesen werden. Dann folgen neue Änderungs-Bescheide und unter Umständen Erstattungsbescheide. Muss Geld zurückgezahlt werden, bringt das Familien schnell an den Rand der finanziellen Möglichkeiten.
"Setzt das Jobcenter das Einkommen aber vorsichtshalber höher an, fehlt das Geld im laufenden Monat. Es ist ein Dilemma." Dass Menschen sich trotz aller Anstrengungen nur schwer aus ihrer prekären Situation befreien können, löst oft Frust und Resignation aus. Eva Peseke erzählt das Beispiel eines Familienvaters, der sich mächtig ins Zeug gelegt hat, als seine Frau das vierte Kind erwartete. "Der war so fleißig, dass am Ende jegliche Unterstützung wegfiel und er das komplette Weihnachtsgeld ans Jobcenter zurückerstatten musste."
1.000 Euro monatlich für eine siebenköpfige Familie - da sind keine Winterschuhe drin (Foto: Marvin Siefke/pixelio.de)
Armutsrisiko Großfamilie
Immer wieder Briefe vom Jobcenter, neue Berechnungen, Überprüfungen – das führte auch Kristin Kramer zur Erwerbslosenberatung der Maßarbeit. Die fünffache Mutter kümmert sich um den Papierkram – und der wurde immer mehr, als die Familie aufstockende Leistungen erhielt. "Alleine steigt man da nicht durch. Die Beratung der Maßarbeit ist Gold wert", sagt sie und ergänzt: "Es ist beschämend, beim Jobcenter zu sein, obwohl mein Mann voll arbeitet." Doch es ging nicht anders: Bei der vorherigen Leiharbeitsfirma brachte der Familienvater nur rund 1.000 Euro nach Hause.
"Dazu kam der Umzug in eine größere Wohnung, die zwar günstig ist, aber Nachtspeicheröfen hat. Wir zahlen mehr Strom als Miete. Ich sah uns schon unter der Brücke", erzählt Kristin Kramer. Trotz der schwierigen Umstände wirkt sie nicht verbittert, im Gegenteil. Für das Geld vom Jobcenter zeigt sie sich genauso dankbar wie für die Unterstützung der Maßarbeit. Noch mehr aber wünscht sie sich, ganz unabhängig von Hilfeleistungen zu sein. Seit ihr Mann zu einer anderen Zeitarbeitsfirma gewechselt ist, geht es für die Familie langsam wieder bergauf. Der Lohn ist besser, es gibt sogar Aussicht auf eine Festanstellung.
LKW-Fahrer: Stressiger Job mit niedrigem Gehalt (Foto: Henning Hraban Ramm/pixelio.de)
Seit Jahren kein Urlaub
"Seit April sind wir raus aus der Aufstockung", freut sich die 36-Jährige. Aktuell bekommt die Familie noch Wohngeld und den Kinderzuschlag. Kristin Kramer träumt sogar davon, wieder in den Urlaub zu fahren. "Das haben wir lange nicht gemacht." Viel wichtiger aber ist ihr, dass ihr Mann besser bezahlt und fair behandelt wird. "Er geht aufrechter, fühlt sich wertgeschätzt. Das tut auch der Ehe und der ganzen Familie gut. Vorher war das Leben so schwer. Das macht Menschen kaputt."
Wie sehr die Arbeit im Niedriglohnbereich Menschen aufreibt, erfährt das Team der Maßarbeit täglich. In der Beratung ist es mit unterschiedlichsten Schicksalen konfrontiert - vom Handwerker, der sich als Selbstständiger eine Existenz aufbauen will und nicht weiß, wie er die einkommensschwachen Wintermonate überstehen soll, bis hin zu Werkvertragsarbeitern, die kaum auf den Mindestlohn kommen. Ob Gastronomie, Transport oder Baubranche – in etlichen Berufen sind niedrige Löhne an der Tagesordnung.
Politik und Unternehmen in der Pflicht
Auch Studien zeigen: Immer mehr Menschen in Deutschland sind arm, obwohl sie arbeiten. So hat sich laut einer Untersuchung des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung die sogenannte Erwerbsarmut von 2004 bis 2014 verdoppelt.
Mehr Geld in der Tasche haben arme Familien nicht, wenn das Kindergeld mal wieder erhöht wird (Foto: Kaus-Uwe Gerhardt/pixelio.de)
Der Anteil der "working poor" an allen Erwerbstätigen im Alter zwischen 18 und 64 Jahren stieg von 4,8 auf 9,6 Prozent. Das heißt, obwohl diese Menschen regelmäßig arbeiten, müssen sie mit weniger als 60 Prozent des mittleren bedarfsgewichteten Einkommens in ihrem Land auskommen.
Wie aber ließe sich die Situation ändern? "Erst einmal sollte der Mindestlohn auf 12 Euro erhöht werden", meint Eva Peseke. Mit aktuell 8,84 Euro ist die Lohnuntergrenze in Deutschland tatsächlich niedriger als in den meisten anderen westeuropäischen Ländern. Doch die Praxis zeigt auch, dass Arbeitgeber Wege finden, den Mindestlohn zu umgehen – indem zum Beispiel Überstunden nicht gezahlt werden oder Leute als selbständige Subunternehmer auf eigenes Risiko arbeiten, weiß Kerstin von Bach.
Ihre Kollegin Eva Peseke fordert darum von der Politik, bessere Rahmenbedingungen zu schaffen, und sieht auch die Arbeitgeber in der Pflicht. "Unternehmen haben die Verantwortung, nicht nur an den eigenen Profit zu denken, sondern auch an die Menschen."
Text und Fotos: Silke Tornede