14. Dezember 2015

Arbeitslosenreport NRW

Schulden beim Jobcenter nehmen zu

Sie sind arbeitslos, arm und überschuldet: In NRW gibt es immer mehr Hartz IV-Empfänger, die Darlehen beim Jobcenter aufnehmen. Sonst können sie Stromnachzahlungen oder eine Mietkaution nicht bezahlen. Laut aktuellem Arbeitslosenreport der Freien Wohlfahrtspflege NRW, zu der auch die Diakonie RWL gehört, stieg die Summe der monatlich gezahlten Darlehen von rund 1,4 auf über 2,5 Millionen Euro an.

Diakonie RWL-Referentin Ina Heythausen (Foto: Diakonie RWL)

Diakonie RWL-Arbeitsmarktexpertin Ina Heythausen wünscht sich, dass das Teilhabechancengesetz in bestimmten Fällen auch eine unbefristete Förderung ermöglicht.

Was bedeutet es, wenn Arbeitslose Schulden beim Jobcenter haben?

Viele Menschen geraten durch dringend notwendige Anschaffungen oder die Stromnachzahlung in eine Verschuldungsspirale, die sie nicht aus der Armut hinausführt, sondern ihre prekären Lebensverhältnisse weiter verschlimmert. Denn die Schulden müssen ja getilgt werden. Pro Monat kann die Bundesagentur für Arbeit zehn Prozent je Darlehen vom – als Existenzminimum geltenden – Regelsatz einbehalten, insgesamt dürfen es maximal 30 Prozent sein. Für die Betroffenen ist das kaum leistbar, denn der Regelsatz ist mit 399 Euro monatlich für Alleinstehende bzw. 360 Euro je Partner für den gesamten Lebensunterhalt – ausschließlich Miete und Heizkosten - sehr knapp berechnet. Für „Wohnen, Energie und Instandhaltung“ sind zum Beispiel monatlich 33,36 Euro vorgesehen sind, was generell viel zu wenig ist.

Wie konnte es überhaupt dazu kommen, dass immer mehr Menschen, die staatliche Unterstützung bekommen, zusätzliche Darlehen benötigen?

Das liegt an der äußerst knappen Berechnung des Regelsatzes und daran, dass die Jobcenter kein Geld mehr für sogenannte „einmalige Beihilfen“ zur Verfügung haben. Bis zur Einführung der Sozialgesetzgebung II konnten Arbeitslose, die Leistungen nach dem Bundessozialhilfegesetz erhielten, zu ihrem Berater gehen und um einen Zuschuss bitten, wenn der Kühlschrank kaputt war oder sie dringend neue Winterkleidung für ihre Kinder benötigten. All das gibt es heute nicht mehr. Wer auf Hartz IV angewiesen ist, muss für diese unregelmäßig anfallenden Bedarfe Geld zurücklegen. Und das wird immer schwieriger, je länger Menschen arbeitslos sind. In NRW haben wir unter den knapp 320.000 Langzeitarbeitslosen gut 15 Prozent, die länger als sechs Jahre SGB II-Leistungen beziehen. Dass ihnen in dieser Zeit Haushaltsgeräte kaputt gehen, ist mehr als wahrscheinlich. Laut aktuellem Arbeitslosenreport wurden im Jahr 2014 mehr als 74.000 und bundesweit rund 225.000 Darlehen vergeben.

Auch mit Job geraten immer mehr Menschen in die Schuldenfalle

Foto: Fotolia

In NRW nimmt die Zahl der Menschen zu, die trotz Arbeit arm sind. Jeder vierte SGB II-Empfänger in NRW ist laut Arbeitslosenreport ein sogenannter „Aufstocker“ und gerät allein dadurch in eine Schuldenfalle. Warum?

Wer „aufstockt“, reicht dem Jobcenter vor der Arbeitsaufnahme einen Arbeitsvertrag, eine Lohnabrechnung oder Einkommensbescheinigung ein. Das Jobcenter schätzt dann, wie viel er verdienen wird. Das Einkommen wird also „fiktiv“ bemessen und danach berechnet, was die Bundesagentur für Arbeit an staatlicher Leistung zuzahlt. Wenn man mehr verdient hat als angegeben, muss man dieses Geld zurückzahlen. Viele Menschen, die diese Leistung beziehen, arbeiten in Jobs, die nach Stunden vergütet werden. Es verlangt also eine unglaubliche Disziplin, jeden Cent, den man mehr verdient als angegeben, zu erfassen und zurückzulegen. Wenn der Betrag nicht zurückgezahlt wird, behält das Jobcenter wie bei den Darlehen zehn Prozent des Regelsatzes ein. Wie viele Schulden sich durch diese Rückzahlungen anhäufen, wird nicht erfasst. Weder die Jobcenter noch der für den Forderungseinzug der Bundesagentur für Arbeit beauftragte Inkassoservice kann dazu Auskunft geben.

Unter den knapp 715.000 Erwerbslosen in NRW zählen aktuell 57 Prozent zu den Armutsgefährdeten. Was heißt das konkret?

Nach einer Definition der Europäischen Union gelten Menschen als armutsgefährdet, wenn sie mit weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens der Gesamtbevölkerung des Landes auskommen müssen. In Deutschland zählt ein Einpersonenhaushalt dazu, der weniger als 895 Euro monatlich zur Verfügung hat. Da der Hartz IV-Regelsatz bei 399 Euro plus Miete und Heizkosten liegt, fallen sehr viele Leistungsbezieher in die Kategorie „armutsgefährdet“. Um diese EU-Armutsdefinition gibt es immer wieder Diskussionen, weil sie vielen Menschen als sehr großzügig erscheint. Natürlich muss hier niemand hungern. Wir haben Tafeln, Kleiderkammern und Second Hand-Läden. Doch gesellschaftliche Teilhabe ist mit so wenig Geld kaum möglich. Denken Sie nur an Weihnachtsgeschenke, einen Café- oder Kinobesuch. Auch die Mobilität ist stark eingeschränkt, denn ein Monatsticket für Bus und Bahn übersteigt bereits das Budget.  

Was muss getan werden, damit Arbeitslose nicht mehr in die Armutsfalle geraten?

Die Wohlfahrtsverbände und damit auch die Diakonie RWL fordern schon lange, dass der Regelsatz bedarfsdeckend ermittelt werden muss. Aber der Gesetzgeber handelt nicht, obwohl das Bundesverfassungsgericht bereits im Juli 2014 angemahnt hat, dass die Sätze für Energiekosten, Elektrogeräte, Regelbedarf und Brillen geändert werden müssen. Ab Januar wird der Regelsatz um fünf Euro angehoben, aber das ist viel zu wenig. Wir halten eine Erhöhung um mindestens 70 Euro für angemessen. Außerdem sollten für kostenintensive Anschaffungen wie Kühlschränke, Herde oder Waschmaschinen wieder einmalige Beihilfen eingeführt werden. Darüber hinaus machen wir uns als Diakonie RWL für einen sozialen Arbeitsmarkt stark. Öffentlich geförderte Beschäftigung bietet langzeitarbeitslosen Menschen Teilhabechancen und einen Ausweg aus der Spirale von Arbeitslosigkeit, Verschuldung und Armut.

Das Gespräch führte Sabine Damaschke.

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