Freitag, 20. Januar 2023

Pflegeversicherung auf den Kopf stellen

Politik-Talk 113c der Diakonie RWL: "Nach dem Applaus endlich mehr Kolleg*innen?"

In fünfeinhalb Monaten, ab 1. Juli 2023, können stationäre Pflegeeinrichtungen mehr Personal einstellen. Mehr Kolleg*innen sind das, was die Pflegekräfte, denen Deutschland in der Coronazeit applaudiert hat, brauchen. Das ist unumstritten und Gesetz. Über noch offene Fragen der Umsetzung hat die Diakonie RWL mit Politik und Wissenschaft in einem digitalen Politik-Talk diskutiert.

Ihr/e Ansprechpartner/in
Rudolf Michel-Fabian
Stabsstelle Politik und Kommunikation
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Die Details der sogenannten Mehrpersonalisierung sind im Paragraf 113c SGB XI, "Personalbemessung in vollstationären Pflegeeinrichtungen", geregelt. Deutschlandweit sollen schrittweise in den nächsten Jahren 100.000 neue Kolleg*innen kommen. Grundlage des Paragrafen 113c ist das Gutachten des Bremer Wissenschaftlers Professor Dr. Heinz Rothgang. Darin steht, dass nicht nur mehr Pflegekräfte kommen sollen, diese sollen auch stärker kompetenzorientiert arbeiten. 

Praktische und politische Fragen auf dem Tisch

In dem Politik-Talk wurde diskutiert, woher die vielen zusätzlichen Pflegekräfte kommen sollen, was das und die Kompetenzorientierung an Herausforderungen für die Ausbildung und die Einrichtungen mit sich bringt sowie die Frage, wer das bezahlen soll. Neben den praktischen Umsetzungsfragen kamen auch Fragen zu notwendigen Reformen der Pflegeversicherung auf den Tisch. "Ohne sie kommen die Kosten für die zusätzlichen Kolleg*innen auf die Pflegebedürftigen zu", erklärt der Vorstand der Diakonie RWL, Christian Heine-Göttelmann. 

Und die seien heute schon finanziell sehr stark belastet. Ein Drittel von ihnen ist auf Sozialhilfe angewiesen. Schuld daran ist die Finanzierungssystematik der Pflegeversicherung. Die zahlt die pflegebedingten Kosten nur bis zu einem gedeckelten Betrag. Die darüberhinausgehenden Pflegekosten müssen die Pflegebedürftigen über den sogenannten pflegebedingten Eigenanteil bezahlen. Das will die Diakonie ändern und die Pflegeversicherung quasi auf den Kopf stellen. 

Sockel-Spitze-Tausch

Der Deutsche Evangelische Verband für Altenarbeit und Pflege (DEVAP) schlägt in seinem Strategiepapier zur Reform der Pflegeversicherung als eine Maßnahme zum Eindämmen der Kosten für Bewohner*innen von Pflegeeinrichtungen einen "Sockel-Spitze-Tausch" vor. Der Tausch bedeutet, dass die Versicherten einen begrenzten Eigenanteil zahlen und die Pflegekassen die darüberhinausgehenden Pflegekosten tragen, auch wenn diese beispielsweise infolge von Tarifsteigerungen oder mehr Personal steigen. Das hält auch Professor Rothgang für den richtigen Weg. Aus dem Bundesgesundheitsministerium war in dem Talk zu hören, dass der Sockel-Spitze-Tausch dort nicht als der Königsweg gesehen wird, gleichwohl er noch in der politischen Diskussion sei. Auch aus dem Landesministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziale kam keine Begeisterung für den Sockel-Spitze-Tausch auf. 

Diskutiert wurden auch andere Kostentreiber, etwa die Investitionskosten, die zusätzlich zu den pflegebedingten Eigenanteilen auf die Bewohner*innen zukommen, und die Kosten für die medizinische Behandlungspflege, die für die Pflegebedürftigen in den Einrichtungen - anders als im häuslichen Bereich - nicht komplett von der Krankenkasse übernommen werden. 

Wieviel Zeit bleibt für eine Reform?

Auch wenn Dringlichkeit und Lösungen unterschiedlich bewertet werden – klar ist: Es besteht Handlungsbedarf. Am 1. Juli 2023 geht es mit der Mehrpersonalisierung los, und es liegt noch keine konkrete Lösung für die Eindämmung der Kosten für die Pflegebedürftigen auf dem Tisch.

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