Internationaler Tag der Pflege
Heidemarie Rotschopf ist Diakonie RWL-Expertin für die Ausbildung in Gesundheitsberufen
Im vergangenen Jahr blieben rund 40.000 Stellen in der Pflege unbesetzt. Das Pflegesystem in Deutschland scheint kurz vor dem Kollaps zu stehen. Also wird vor allem darüber diskutiert, wie eine bessere Bezahlung zu finanzieren, mehr Ausbildungsplätze zu schaffen und mehr ausländische Fachkräfte zu bekommen sind. Warum greift das für Sie zu kurz?
Allein in der Altenpflege arbeiten derzeit mehr als eine Million Menschen. Aber fast drei Viertel von ihnen sind in Teilzeit beschäftigt. Wenn wir alle für eine Vollzeitstelle gewinnen könnten, hätten wir über 730.000 Pflegekräfte. Das wäre zwar nur ein Baustein im Kampf gegen den Fachkräftemangel, aber ein ganz entscheidender. Einerseits arbeiten so viele Pflegekräfte in Teilzeit, weil sie körperlich und emotional an ihre Grenzen kommen. Andererseits bieten etliche Träger lediglich Teilzeitstellen an, weil sich die Versorgung ihrer Klienten nicht anders organisieren lässt. Laut Umfragen hat mehr als jede dritte Pflegekraft im letzten Jahr darüber nachgedacht, den Beruf aufzugeben oder zu wechseln. Solange sich an den schlechten Rahmenbedingungen nichts ändert, können wir für den Beruf so viel Werbung machen wie wir wollen. Er bleibt für diejenigen, die wir in der Pflege dringend brauchen, unattraktiv.
Aber viele fühlen sich doch überfordert, weil Personal fehlt. Also sollte erst einmal dafür gesorgt werden, dass sich mehr Menschen für den Pflegeberuf entscheiden.
Ich finde, wir brauchen keine Imagekampagnen, sondern eine Imagekorrektur. Wenn wir vermitteln, dass jeder, der ein Herz für alte und kranke Menschen hat, in diesem Beruf richtig ist, werten wir ihn weiter ab. Pflege ist anspruchsvoll und braucht eine gute, differenzierte Ausbildung und regelmäßige Fort- und Weiterbildung. Pflegekräfte müssen einen "Rundumblick" für Patienten oder Klienten und ihre Angehörigen haben. Sie sollten zum Beispiel wissen, wie Medikamente wirken, wann eine zusätzliche Blutzuckerkontrolle nötig ist und ob die Wundversorgung ausreicht. Sie müssen erkennen, ob pflegende Angehörige Anzeichen von Überforderung zeigen, deshalb zusätzliche Unterstützung benötigen und sie organisieren. Diese Fachkompetenz wird in den Imagekampagnen selten vermittelt. Da sehen wir das Bild der liebevollen Pflegekraft, die das Kopfkissen des Patienten aufschüttelt.
Laut Umfragen wünschen sich Pflegekräfte mehr Zeit für die Patienten. Warum ist es falsch, damit zu werben?
Es ist nicht falsch, aber es bedient die Vorstellung, dass "ein Herz für die Pflege" schon Qualifikation genug ist. Der Pflegeberuf ist sehr vielfältig und differenziert sich immer mehr aus. Neben den Fachkräften, die eine dreijährige Ausbildung durchlaufen haben, gibt es Hilfs- und Betreuungskräfte, aber auch rund zwei Prozent akademisch gebildete Fachkräfte. Die Arbeit im Team mit unterschiedlichen Qualifikationen und Kompetenzen ist enorm wichtig und muss gut abgestimmt sein. Wo das funktioniert, gibt es weniger Probleme mit dem Fachkräftemangel. Gute Pflege hat viel mit guter Führung und Organisation zu tun.
Mehr Zeit für Patienten und Klienten - Mit einer guten Arbeitsorganisation ist das möglich.
Heißt das: Wenn die Pflege gut organisiert ist, brauchen wir gar nicht so viele Fachkräfte?
Die breite Basis in der Pflege muss gut qualifiziert sein. Insofern geht kein Weg daran vorbei, mehr Fachkräfte auszubilden und vor allem in diesem Beruf zu halten. Aber mehr Personal ist nicht die einzige Möglichkeit, die Bedingungen in der Pflege zu verbessern. Wer zum Beispiel die moderne Technik für seine Dokumentation und die Erstellung von Dienstplänen klug nutzt, spart Zeit für die Pflege. Wer dafür sorgt, dass Mitarbeitende verlässliche Dienstpläne haben und nicht ständig für andere Kollegen einspringen müssen, bindet sie an seine Einrichtung. Wer auf Pausen achtet, Möglichkeiten der Mitbestimmung und ein Klima der Wertschätzung schafft, hält seine Mitarbeitenden gesund. Das ist vielen Pflegekräften wichtiger als mehr Gehalt. Dort, wo nach Tarif gezahlt wird, sind die Verdienstmöglichkeiten auch gar nicht so schlecht. Mit monatlich rund 1.000 Euro im ersten Lehrjahr gehören Auszubildende in der Pflege zu den am besten bezahlten Azubis in NRW.
Um dem Fachkräftemangel entgegenzuwirken, wird mehr und mit dem neuen Pflegeberufegesetz ab 2020 auch anders ausgebildet. Gleichzeitig werden zunehmend ausländische Fachkräfte ins Land geholt. Wie verändert das die Pflege?
Ich bin skeptisch, ob das ein guter Weg ist, dem Fachkräftemangel zu begegnen. Laut einer Statistik der Bundesagentur für Arbeit von Juni 2018 kommen in NRW von den rund 130.000 Mitarbeitenden in der Altenpflege rund 13.000 aus dem Ausland. Dabei zeigt sich, dass unser Arbeitsmarkt für Europäer zunehmend unattraktiv wird. In vielen Ländern haben Pflegekräfte ein Studium absolviert, ähnliche Kompetenzen wie Ärzte und arbeiten mit ihnen auf Augenhöhe zusammen. Sie müssen deutliche Abstriche machen, wenn sie nach Deutschland kommen und sind schnell wieder weg, sobald sie ein besseres Angebot aus einem anderen EU-Staat erhalten. Wer nicht aus einem EU-Land kommt, muss hohe Hürden nehmen. Dazu gehört neben einem Sprachtest auch eine langwierige Berufsanerkennung. Ich finde es aber auch ethisch bedenklich, gut ausgebildete Fachkräfte, die in den eigenen Ländern meist dringend gebraucht werden, nach Deutschland zu holen.
Das Gespräch führte Sabine Damaschke.
Fotos: Freie Wohlfahrtspflege NRW
Alter und Pflege
Der internationale Tag der Pflege wurde 1965 vom International Council of Nurses (ICN/ Weltbund der Pflegenden) ins Leben gerufen. Er findet jährlich am 12. Mai, dem Geburtstag Florence Nightingales statt. In diesem Jahr steht er unter dem Motto: "Gesundheit ist ein Menschenrecht". Niemand dürfe ohne Zugang zu medizinischer Versorgung sein und der Gefahr ausgesetzt werden, aufgrund des Bedarfs an medizinischer Versorgung zu verarmen, betont der ICN. Der Weltbund sieht Pflegefachkräfte als essentiell für die Umgestaltung des Gesundheitswesens und der Gesundheitssysteme an, damit kein Mensch zurückbleibt.