16. November 2022

Häusliche Pflege

"Alle sind am Limit"

Wenn Lebensmittel immer teurer werden und Energiekosten steigen, sparen viele Menschen an anderer Stelle – etwa bei der Pflege. Sie verzichten dann möglicherweise auf Hilfeleistungen ambulanter Pflegedienste. Die Folge kann eine Minderversorgung der Pflegebedürftigen sein. Eine fatale Entwicklung, sagen Pflege-Experten der Diakonie RWL und fordern gezielte Entlastung.

  • Pflegekraft sitzt erschöpft auf dem Boden.
  • Ambulante Pflegekraft hilft Seniorin beim Anziehen.
  • Ein Würfelbild zeigt, welche Arbeitsbereiche zur ambulanten Pflege gehören.
  • Eine Pflegekraft rechnet ambulante Hilfsleistungen ab.
  • Eine ambulante Pflegerin erklärt einer Seniorin ein Gerät.

Was die ambulanten Pflegedienste für Kunden und Kundinnen so attraktiv macht, ist deren hohe Flexibilität. "Das Modell ist sehr übersichtlich, transparent und eng an den Bedürfnissen der Menschen orientiert", sagt Regina Mehring, Geschäftsführerin der Evangelischen Pflegedienste Mark-Ruhr gGmbH mit rund 500 Mitarbeitenden an 14 Standorten und einem zugehörigen Beratungszentrum. Zum einen übernehmen die Mitarbeitenden medizinische Leistungen wie Insulin spritzen oder Verbände wechseln. Damit werden sie unmittelbar von den betreuenden Ärzt*innen beauftragt; die Abrechnung erfolgt über die Krankenkassen.

Auf der anderen Seite können die Kund*innen solche Pflegeleistungen wie Waschen, Essen reichen, An- und Ausziehen oder Vorlagen wechseln in Anspruch nehmen.  Die Angehörigen entscheiden dabei, wie das Budget der Pflegekasse für den Pflegebedürftigen eingesetzt wird. Regina Mehring: "Unseren Kundinnen und Kunden buchen bei uns die gewünschten Leistungen, können diese aber auch kurzfristig wieder kündigen." Und eben das komme in der aktuellen Krisen-Situation immer häufiger vor.

Die Fachkraft eines ambulanten Pflegedienstes rasiert einen Senioren in dessen Badezimmer.

Die Fachkraft eines ambulanten Pflegedienstes rasiert einen Senioren in dessen Badezimmer. 

Sparen bei der Pflege

"Die Menschen sparen, wo sie nur können - auch bei der Pflege, die dann entweder komplett wegfällt oder notgedrungen von Angehörigen übernommen wird", berichtet sie. Da heiße es dann beispielsweise: "Zum Waschen müssen Sie jetzt nicht mehr kommen, das schaffen wir schon selbst." Genutzt werde das eingesparte Pflegegeld dann etwa, um die Stromrechnung zu begleichen oder die Lebenshaltungskosten zu finanzieren, berichtet Mehring. "Ich mache den Betroffenen daraus überhaupt keinen Vorwurf", betont sie. "Aber das Schlimme ist: Unterm Strich bedeutet das Einsparen von Pflegeleistungen häufig auch eine Verschlechterung der Lebenssituation der Pflegebedürftigen."      

Eine Einschätzung, die Anja Köhler, Teamleitung ambulante Pflege im Zentrum Pflege des Diakonischen Werkes Rheinland-Westfalen-Lippe (Diakonie RWL), teilt. "Wenn Angehörige Pflegeaufgaben übernehmen, die sonst Profis erledigen, könnte sich das langfristig negativ auf die zu Pflegenden auswirken. Zudem besteht die Gefahr, dass die Angehörigen am Ende selbst überlastet sind und dem Arbeitsmarkt fehlen." Im schlimmsten Fall könne die Überlastung auch zu Gewalt gegenüber den Pflegebedürftigen führen.  "Wir sind in großer Sorge, dass Pflegebedürftige den Hilfebedarf senken aus Angst davor, hungern oder frieren zu müssen." Sie fordert eine gezielte und sofortige Entlastung der Pflegebedürftigen. "Denn Pflegebedürftige und deren Angehörige machen nur selten mit lauter Stimme auf ihre Situation aufmerksam."

Eine ambulante Pflegekraft reicht einer Seniorin das Essen.

Eine ambulante Pflegekraft reicht einer Seniorin das Essen. Diese Besuche sind auch wichtige soziale Kontakte für die alten Menschen.

Mehr Beachtung

Auch Regina Mehring wünscht sich, dass die ambulante Pflege mehr Beachtung erfährt. "Denn sie ist so etwas wie der Kitt in unserer Gesellschaft und garantiert den Pflegebedürftigen neben einer angemessenen Versorgung in ihrem eigenen Zuhause auch regelmäßige soziale Kontakte." Nicht umsonst gebe es einen gesetzlich verankerten "Vorrang der häuslichen Pflege". Mehring: "Davon abgesehen: Es könnten gar nicht alle alten Menschen in der stationären Pflege oder in Krankenhäusern aufgenommen werden, und das ist auch weder nötig noch entspricht es dem Wunsch der Pflegebedürftigen."

Die höheren Kosten als Folge der Energiekrise betreffen auch die ambulanten Pflegedienste selbst, allerdings eher indirekt. "Der Anteil der Sachkosten in der ambulanten Pflege fällt nicht so schwer ins Gewicht wie bei stationären Einrichtungen", sagt Anja Köhler. "Unsere Dienste müssen ihre Geschäftsräume beheizen und die Tankfüllungen für die Fahrzeuge bezahlen." Kleinen Pflegeanbietern, die keinem größeren Verband angehören, könne es im schlimmsten Fall passieren, dass sie mit ihren Einnahmen die Fixkosten nicht mehr decken können und in wirtschaftliche Not geraten. "Solche Fälle sind uns bei unseren Mitgliedern bislang aber nicht bekannt", sagt Anja Köhler. 

Zwei Mitarbeitende der Evangelischen Pflegedienste Mark-Ruhr gGmbH.

Zum Team der Evangelischen Pflegedienste Mark-Ruhr gGmbH gehören rund 500 Mitarbeitende, die an 14 Standorten und in einem zugehörigen Beratungszentrum arbeiten.

Problem: Fachkräftemangel

Ein viel größeres Problem in der ambulanten Pflege sei der Fachkräftemangel – und das schon seit Jahren. "Alle sind am Limit", ergänzt Regina Mehring. Die Gründe: Keine geregelten Arbeitszeiten, Schichtdienste und kurzfristiges Einspringen, wenn Kolleg*innen krank sind – das schlaucht. "Aber wir können nicht einfach absagen. Wenn wir nicht rausfahren zu den Kundinnen und Kunden, dann ist deren Gesundheit in Gefahr." Und jeder abgesagte Einsatz bedeutet gleichzeitig für die ambulanten Dienste einen Umsatzverlust. Mehring: "Wenn wir die Leistung nicht erbringen, können wir auch nichts abrechnen."

Trotz der akuten Personalnot warnt Regina Mehring davor, "einfach jeden in die Pflege 'zu stecken'" und sagt: "Die Pflege darf kein 'Sammelbecken' werden für Menschen, die aus wirtschaftlicher Not berufstätig sein müssen. Für einen Pflegeberuf braucht es auch eine Berufung! Nicht jede*r findet Anerkennung, Bestätigung und Freude im Umgang mit Menschen, die hilflos sind, pflegebedürftig und eine Betreuung benötigen. Und die Menschen, die der Unterstützung bedürfen, haben auch eine angemessene Betreuung verdient."

Anja Köhler, Teamleitung ambulante Pflege im Zentrum Pflege der Diakonie Rheinland-Westfalen-Lippe.

Anja Köhler, Teamleitung ambulante Pflege im Zentrum Pflege der Diakonie Rheinland-Westfalen-Lippe, setzt sich dafür ein, die Arbeitsbedingungen in der Pflege zu verbessern. 

Erfüllender Beruf

Anja Köhler betont als Pflege-Expertin der Diakonie RWL: "Wir setzen uns dafür ein, die Arbeitsbedingungen in der Pflege zu verbessern, damit der Beruf wieder attraktiver wird. Außerdem brauchen wir eine Ausbildungs- und Fachkräfteoffensive, um das bestehende Personal zu entlasten." Denn die beste Voraussetzung für zufriedene Mitarbeitende im Pflegebereich seien ausreichend viele Kolleg*innen, die das System insgesamt stärken und so auch zu mehr Qualität in der Pflege beitragen. Für Anja Köhler außerdem maßgeblich: "Wer sich für die Pflegebranche entscheidet, kann sicher sein, einen wirklich tollen Beruf gewählt zu haben, der Freude macht, erfüllend ist und der einem viel zurückgibt."

Text: Verena Bretz; Fotos: Diakonie Mark-Ruhr, Diakonie RWL, Diakonie Deutschland, Pixabay, Shutterstock 

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Zahlen aus der Pflege

Nach Angaben des Statistischen Landesamtes lebten Ende 2021 knapp 1,2 Millionen Pflegebedürftige in Nordrhein-Westfalen. Rund 167.000 (14 Prozent) waren demnach stationär in Pflegeeinrichtungen untergebracht. Der Großteil von 890.000 (86 Prozent) wurde zu Hause versorgt. Etwa ein Viertel der in den eigenen vier Wänden betreuten Menschen (235.000) nahmen ambulante Pflegedienste in Anspruch. Drei Viertel wurden ausschließlich von selbst organisierten Pflegehilfen wie Angehörigen oder Nachbarn betreut. 655.000 davon bezogen Pflegegeld, 135.000 erhielten mit Pflegegrad 1 keine Leistungen der Pflegeversicherung.