Ambulant betreute Wohngemeinschaften
Kerstin Schönlau bei der Eröffnung der Fachtagung. Links im Bild: Wilfried Kehrbach (Diakonie RWL) und die Moderatorin Susanne Schübel
Die Stuhlreihen waren dicht besetzt, als Kerstin Schönlau, Vorsitzende des Fachverbandes für Altenarbeit und inhaltlich Verantwortliche des Tages, und Wilfried Kehrbach, Leitung des betriebswirtschaftlichen Zentrums, den Fachtag eröffneten. Am Beispiel des österreichischen Malers Friedensreich Hundertwasser stellte Schönlau in einem geistlichen Impuls zum Johannes-Evangelium („Im Haus meines Vaters gibt es viele Wohnungen.“) die Frage: „Gibt es eine Zusage Gottes für eine maßgeschneiderte Wohnung?“ In einem kurzen Dialog gaben Kerstin Schönlau und Wilfried Kehrbach anschließend einen Einblick in die Vorbereitung und die Bedeutung der Tagung im Verband.
Wohngemeinschaften – eine Erfolgsgeschichte
Ein flammendes Plädoyer für die neue Wohnform („Mein Herz brennt für die WG.“) hielt der WG-Experte Roland Weigel, Geschäftsführer der Konkret Consult Ruhr (KCR), der Pflegedienste seit vielen Jahren für die Begleitung ambulant betreuter WGs fit macht. Er zeichnete die „Erfolgsgeschichte“ dieser Wohnform nach. Die Nachfrage nach Plätzen übersteige das Angebot deutlich, die WGs hätten in der Regel weder Leerstände noch Wiederbesetzungsprobleme. Vorteilhaft sei auch die große Vielfalt der Angebote. Gleichzeitig skizzierte Weigel die wichtigsten „Gelingensfaktoren“ für die erfolgreiche Etablierung und Integration dieser Wohnform in die soziale Versorgungsstruktur. Dazu gehört zum Beispiel die Fokussierung auf die richtige Zielgruppe und ein tragfähiges inhaltliches Konzept, das von den Mieterinnen und Mietern und ihren Angehörigen mitgetragen und mit Leben erfüllt werden müsse. Die Finanzierung gelinge nur, wenn die Gestehungskosten durch die Aktivierung aller Budgets gedeckt werden können, die WGs sozialhilfetauglich und die Kosten marktgerecht seien. Roland Weigel: „Politik und Sozialverwaltung müssen mitspielen, der Personalmix muss stimmen, und die einzelnen Berufsgruppen müssen gut zusammenarbeiten.“
"Hohes Interesse an der Entstehung ambulanter, betreuter Wohngemeinschaften": Gerhard Herrmann, Abteilungsleiter im NRW-Gesundheitsministerium.
NRW-Landesregierung äußert „hohes Interesse“
Auch Gerhard Herrmann, Leiter der Abteilung Pflege, Alter, demografische Entwicklung im Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf, machte den Tagungsteilnehmern Mut. NRW-Pflegeminister Laumann habe in den vergangenen Monaten stets betont, dass jeder pflegebedürftige Mensch in NRW selbst entscheiden können solle, wo und wie er leben und alt werden möchte. Um dieses Recht ausüben zu können, müssten entsprechenden Angebotsstrukturen vorhanden sein. „Wir haben ein hohes Interesse an der Entstehung ambulanter, betreuter Wohngemeinschaften“, erklärte Herrmann. Wohngemeinschaften hätten das Spektrum der zukunftsorientierten Wohnformen ergänzt. Sie ermöglichten persönliche Teilhabe für die Betroffenen und Lebensqualität im Alter. Sie böten individuellen Unterstützungsbedarf und seien grundsätzlich zukunfts- und marktfähig. Damit sind sie echte Alternativen.
Mehr Rechtssicherheit durch klare Abgrenzung
Die geplante Novellierung des Wohn-Teilhabe-Gesetzes solle durch eine weitere Schärfung der gesetzlichen Regelungen mehr Rechtssicherheit schaffen für die ambulanten WGs. Diese betreffen vor allem die saubere Abgrenzung zwischen einer Einrichtung mit umfassendem Leistungsangebot (EULA) und einer anbieterverantworteten Wohngemeinschaft, aber auch zwischen anbieterverantworteter und selbstverantworteter Wohngemeinschaft. Gerhard Herrmann: „Der Gesetzentwurf formuliert ein prägendes Merkmal für Einrichtungen mit umfassendem Leistungsangebot, nämlich die zwingende Gewährleistung einer umfassenden Gesamtversorgung. Damit wird explizit ausgeschlossen, dass anbieterverantwortete WGs, die immer einzelne Leistungen optional anbieten und damit keine zwingende, umfassende Gesamtversorgung anbieten, ordnungsrechtlich als vollstationäre Einrichtung eingestuft werden.“ Darüber hinaus werde klargestellt, dass bei der Bewertung, ob eine WG anbieter- oder selbstverantwortet sei, die konzeptionelle Ausrichtung der WG eine entscheidende Bedeutung hat. Entscheidend sei die tatsächliche Bewohnerstruktur zum Zeitpunkt des Einzugs. Sind die Bewohner dann, was vorkommt, aufgrund der Verschlechterung ihres Gesundheitszustands nicht mehr in der Lage, das Gemeinschaftsleben aufrecht zu erhalten, so soll diese Tatsache bei der Bewertung der Angebotsform unberücksichtigt bleiben, sofern die notwendigen Entscheidungen von den Vertreterinnen und Vertretern der Bewohner gemeinschaftlich getroffen werden. Gestärkt wird die Stellung der Vertreterinnen und Vertreter. Ihre Aussage wird bei der Bewertung, ob die WG selbst- oder anbieterverantwortet ist, stets zu berücksichtigen.“
Austausch im Plenum. Vorne rechts Pflegeexperte Roland Weigel.
Praktiker stellten „ihre“ Wohngemeinschaft vor
Nach den Impulsvorträgen der Experten schlug die Runde der WG-Praktiker. Nach einem strukturierten Kurzvortrag, der die Besonderheiten des jeweiligen Angebots herausarbeitete, scharten sich die Tagungsteilnehmer in offenen Gesprächskreisen um die Praxisexperten, die bereitwillig Frage und Antwort standen.
Wohngemeinschaften Schulstraße in Münster
Die Wohngemeinschaften Schulstraße im Herzen der Domstadt stellte Susanne Middendorf, Pflegedienstleiterin der Diakoniestation Münster vor. Die anbieterverantworteten WGs mit zehn demenziell veränderten Mieterinnen und Mietern im 1. OG und acht „fitten“ Senioren 60plus kämpft im Verbund mit anderen seit zwei Jahren für eine realistische Leistungs- und Qualitätsvereinbarung mit der Stadt Münster – ein Problem, das viele WG-Begleiter kennen. „Es gibt keine einheitliche Entscheidungspraxis in den Städten und Gemeinden. NRW ist ein Flickenteppich. Das Wohl und Wehe der Finanzierung hängt leider oft von Einzelpersonen ab, das ist ein Skandal“, bestätigt WG-Experte Roland Weigel.
Wohngemeinschaft Neuenhöhe in Wermelskirchen
Ganz anders sah es bei Peter Siebel, Geschäftsführer der Diakonie Wermelskirchen, aus. Die dortige WG Neuenhöhe, 2005 in einer alten Schule gegründet, zählt zu den ältesten selbstverantworteten Wohngemeinschaften in NRW. Indem er von Anfang an alle Entscheidungsträger aus Verwaltung und Politik in die Konzepterstellung einbezog, gelang es Siebel, von Anfang mit dem Kreis eine LQV auszuhandeln. Alle Mieter zahlen dieselben Preise. Alle Kosten sind sozialhilferechtlich anerkannt. Die WG erzielt regelmäßig einen positiven Deckungsbeitrag um die 4-5 %. Für Siebel sind ambulant begleitete Wohngemeinschaften ein echtes Erfolgsmodell. Mittlerweile begleitet die Diakoniestation Wermelskirchen fünf selbstverantwortete WGs, in den kommenden Jahren soll die Zahl auf zehn Einrichtungen steigen.
Wohngemeinschaft „Leben in Quartier“ in Bottrop
Kein Blatt vor den Mund nahm Kerstin Schönlau, Geschäftsbereichsleiterin beim Diakonischen Werk Gladbeck/Bottrop/Dorsten, bei der Beschreibung der Stolpersteine, die die Eröffnung der Wohngemeinschaften „Leben im Quartier“ in Bottrop zu überwinden waren. In dem hochmodernen Neubau stehen seit Oktober 2017 zwei anbieterverantwortete Wohngemeinschaften für je zwölf Menschen mit Demenz sowie sechs barrierefreie Altenwohnungen zur Verfügung. Schönlau musste erfahren, dass sich Wohngemeinschaften auch heute noch nicht „von allein“ füllen. Die Verhandlungen in Bottrop über eine LQV waren so langwierig, dass sich die Eröffnung zeitlich verzögerte. Über Monate blieben Plätze in der WG leer, erst eine umfassende Werbekampagne kurbelte die Nachfrage an. Hinzu kamen Verständnisprobleme der Angehörigen zum Konzept der WG sowie Schwierigkeiten bei der Zahlungsmoral. Trotzdem hält Schönlau an der Wohnform fest: „WGs sind mir sehr wichtig. Das nächste Projekt ist bereits in Planung.“
Wohngemeinschaft „Haus Regenbogen“ in Burscheid
Den wohl ungewöhnlichsten Weg zum Ziel beschrieb Marc Schue, Leiter des Geschäftsbereiches Altenhilfe der Rheinischen Gesellschaft für innere Mission und Hilfswerk, Düsseldorf. Um der Philosophie der Selbstverantwortung auch in der Rechtsform Ausdruck zu geben, wandelte Schue das 2012 als anbieterverantwortete WG gestartete „Haus Regenbogen“ erfolgreich in eine selbstverantwortete Einrichtung um: Statusanerkennung 2017. Die WG mit zwölf Mieterinnen und Mietern befindet sich in Burscheid, ein Städtchen mit 18.000 Einwohnern und schreibt dank bestehender Verträge (LQV, Pflege- und Betreuungsvertrag mit den Mietern) zuverlässig „eine schwarze Null“. Die Leitung der pflegerischen und sozialen Betreuung liegt in den Händen einer Pflegefachkraft, die einen Personalmix aus Pflegefachkräften, Pflegehilfskräften, Betreuungsassistenz und Hauswirtschaftskräften steuert. Die Auslastung der Einrichtung liegt bei 95 Prozent, und die nächsten vier Projekte sind bereits fest vereinbart oder in konkreter Planung.
Kick-off für regelmäßigen Erfahrungsaustausch
Die Themen der Fachtagung sollen ab 2019 im Rahmen eines „Benchmarking-Kreises“ fortgesetzt werden, in dem WG-Begleiter und WG-Interessenten zu einem regelmäßigen Informations- und Erfahrungsaustausch zusammenkommen.
Text: Susanne Schübel, Themenfoto: LAG Freie Wohlfahrtspflege NRW, Fotos von der Tagung: Michael Horst
Alter und Pflege
Stimmen zum Tag
Perfekter Austausch
„Der Impulsvortrag von Roland Weigel war sehr gut. Er hat die Vorteile, aber auch die Probleme von Wohngemeinschaften anschaulich dargestellt. Der Austausch untereinander war perfekt. Wir haben eine ambulant betreute Wohngruppe mit acht Personen. Das ist ein bisschen wenig, auch von der Finanzierung her. Baulich ist da leider nix zu machen. Ich überlege jetzt, was wir vielleicht alternativ tun könnten.“
Dorothea Reimann, Leiterin der Diakoniestationen im Kirchenkreis Herford
Alle Fragen beantwortet
„Unsere Wohngemeinschaft in Bad Driburg ist seit zwei Jahren nicht wirtschaftlich. Der Kreis Höxter und die Angehörigen weigern sich, den Wohngruppenzuschlag zu zahlen. Ich bin zur Fachtagung gekommen, weil wir vor der Frage stehen: Führen wir die WG weiter oder schließen wir sie? Alles, was ich dazu wissen wollte, wurde heute beantwortet. Ich finde es toll, dass alle so authentisch und ehrlich im Umgang miteinander waren. Wir kochen alle mit Wasser, wir haben alle die gleichen Probleme. Bei einem Benchmarking-Kreis wäre ich auf jeden Fall dabei.
Elisabeth Klennert, Evangelisches Johanneswerk,
Interesse an Erfahrungsaustausch
Die Vorträge hatten ein hohes Niveau. Unsere Einrichtung hatte mit WGs bisher nichts zu tun. Für uns ist nach der heutigen Tagung zur ernsthaften Überlegung geworden, in diesem Bereich tätig zu werden. Wohngemeinschaften könnten für uns eine Alternative sein. Es kommt allerdings darauf an, welchen Standort wir wählen. Vielleicht finden wir ihn in NRW, wahrscheinlicher ist jedoch Brandenburg, weil wir dort schon eine entsprechende Immobilie vorrätig haben. Wir werden jetzt in Klausur gehen und schauen, ob eine WG für uns von der Konzeption umsetzbar ist. Wenn wir uns für diesen Weg entscheiden, sind wir definitiv an einem regelmäßigen Erfahrungsaustausch interessiert. Damit haben wir in der Vergangenheit gute Ergebnisse erzielt.
Thomas Raths, Stiftung Diakonissenhaus Friedenshort, Freudenberg
Lust auf intensivere Beschäftigung mit Thema geweckt
„Ich habe den Tag heute total positiv erlebt. Bisher hatte ich mich noch nicht mit dem Thema WG beschäftigt. Ich arbeite im Bereich Buchhaltung/Controlling. Deshalb wollte ich hier erfahren, wie sich ambulant begleitete Wohngemeinschaften finanzieren. In unserem Bereich planen wir gerade WGs. Der Tag hat mein Interesse geweckt, mich noch intensiver damit zu beschäftigen.
Jochen Wirths, Diakonie, Gummersbach
Orientierung und Ideenfindung
Für mich diente der Fachtag als Orientierung und zur Ideenfindung. Wir haben eine stationäre Einrichtung mit einer Tagespflege und Betreutes Wohnen, aber keinen ambulanten Dienst. Deshalb war für mich wichtig zu erfahren, welche Notwendigkeiten bestehen, um eine WG überhaupt auf den Weg bringen zu können. Bisher haben wir eher diffus überlegt, was wir mit bestehenden Immobilien machen könnten. Nach dem heutigen Tag denke ich eher darüber nach, welche Grundstücke wir haben, die bebaut werden könnten. Vielleicht ist es auch eine Überlegung wert, für das Klientel der WGs über einen ambulanten Dienst nachzudenken. Einen strukturierten Austausch zu dem Thema in Form eines Benchmarking-Kreises würde ich sehr begrüßen.
Christian Landau, Martineum, Essen