28. Juli 2020

Altenhilfe in der Corona-Krise

Das Virus der Einsamkeit

Hat die Kirche Kranke, Alte und Sterbende in der Corona-Pandemie alleine gelassen? Der Vorwurf der Pastorin und Ex-Ministerpräsidentin Christine Lieberknecht sorgt seit Monaten für eine Debatte. Auch wenn der Blick in die Diakonische Altenhilfe nach Wuppertal ein anderes Bild zeigt – die Einsamkeit vieler Menschen ist eine Herausforderung, der sich Kirche und Diakonie stellen müssen.

  • Eine alte Frau hält das Bild ihres verstorbenen Mannes in den Händen. (Foto: Pixabay)

Jetzt ist die Zeit der nachgeholten Besuche, der fröhlichen Kaffeekränzchen und glücklichen Schnappschüsse von Alten und Jungen, die sich lange nicht sehen durften. Doch die strikten Besuchsverbote der Corona-Pandemie wirken nach – vor allem für diejenigen, die in dieser Zeit einen Menschen verloren haben.

"Sterbebegleitung ist nicht nachholbar", betont Katharina Ruth. Sie leitet den Hospizdienst "Die Pusteblume" in Wuppertal und arbeitet eng mit den acht stationären Einrichtungen der Diakonischen Altenhilfe Wuppertal zusammen. "Menschen, denen sie verwehrt wurde, leiden oft ein Leben lang darunter. Und für die Sterbenden war es ebenfalls eine Katastrophe."

Katharina Ruth, Leiterin des diakonischen Hospizdienstes "Die Pusteblume" in  Wuppertal, hat ein "Ringen" um den richtigen Umgang mit den Besuchsverboten vermissst.

Katharina Ruth leitet den diakonischen Hospizdienst"Die Pusteblume" in  Wuppertal (Foto: privat)

Über das "ethische Dilemma" reden

Auch wenn Katharina Ruth diese Katastrophe in den Altenheimen der Wuppertaler Diakonie nicht wahrgenommen hat, findet sie eine Debatte darüber wichtig. "Das Pauschalurteil, Kirche habe Sterbende, Alte und Kranke alleine gelassen, ist falsch", betont sie. "Doch wir müssen über das ethische Dilemma, in das die Pandemie uns gebracht hat, reden. Das Infektionsschutzgesetz hat alles außer Kraft gesetzt, was uns in der Hospiz- und Altenarbeit wichtig war. Der Gesundheitsschutz hat das Grundrecht auf Selbstbestimmung, angemessene Sterbebegleitung und gesellschaftliche Teilhabe verletzt."

Ein "Ringen um den angemessenen Weg" habe ihr gefehlt, so Ruth. "Insgesamt wurde zu wenig hinterfragt und diskutiert. In den Medien war immer wieder zu hören, dass Einrichtungen aus Angst vor einem Corona-Ausbruch ihre Türen strikt verriegelt haben – auch für Ehrenamtliche der Hospizdienste." Ebenso wie Katharina Ruth fordert Professorin Sigrid Graumann, Rektorin der Evangelischen Hochschule Rheinland-Westfalen-Lippe und Mitglied des Deutschen Ethikrates, eine ethische Reflexion der Infektionsschutzmaßnahmen. In einer Live-Diskussion der Diakonie RWL wird sie am 19. August dazu Stellung nehmen.

Dr. Martin Hamburger, Vorstand der Diakonie Wuppertal

Dr. Martin Hamburger, Vorstand der Diakonie Wuppertal, möchte vermeiden, dass Bewohner zum Sterben in die Schweiz fahren müssen.

Niemand wurde alleine gelassen

In den diakonischen Altenheimen in Wuppertal gab es trotz des Besuchsverbots zu Beginn der Pandemie durchgehend eine hospizliche Begleitung der Bewohnerinnen und Bewohner, die im Sterben lagen. "Niemand wurde alleine gelassen", betont der Vorstand der Wuppertaler Diakonie, Martin Hamburger. "In den Landesverordnungen gab es Ausnahmen des Besuchsverbots für Sterbende und die haben wir konsequent angewendet." Angehörige durften persönlich Abschied nehmen, allerdings zeitlich begrenzt und in entsprechenden Schutzanzügen.

Auch die Seelsorger hätten die Ausnahmeregelungen geschickt genutzt. Da das Bedürfnis nach Gesprächen mit ausgebildeten Seelsorgern in Evangelischen Kliniken und Altenheimen besonders während des Lockdowns hoch war, bezog Hamburger die Gemeindepfarrerinnen und -pfarrer in Wuppertal mit ein. "Während die Klinikseelsorger als Ansprechpartner für Kranke und Angehörige sehr viel zu tun hatten, fielen für die Gemeindepfarrer in der Anfangszeit der Pandemie Aufgaben weg. Wir haben sie daher um Hilfe gebeten."

So entstand ein "Notfallplan" für Altenheime und Kliniken, die die Theologen bei Bedarf anrufen und als Seelsorger einsetzen konnten. Sie seien auch als Ansprechpartner für die Pflegekräfte wichtig gewesen, betont Hamburger. "Unsere Mitarbeitenden in den Alteneinrichtungen waren hoch belastet. Sie brauchten ausgebildete Seelsorgende, die Zeit für sie hatten, ihnen zuhören, sie trösten und ermutigen konnten."

Gartenkonzerte gegen die Einsamkeit und Langeweile - In vielen Altenheimen haben junge Menschen für die Senioren gespielt. (Foto: Pixabay)

Gartenkonzerte gegen die Einsamkeit und Langeweile - In vielen Altenheimen haben junge Menschen für die Senioren gespielt.

Kreatives Engagement gegen Vereinsamung

Insgesamt, so meint der Theologe, seien die Bewohnerinnen und Bewohner der Altenheime gut versorgt gewesen. Und das nicht nur im Sterben. Es habe viel kreatives Engagement gegeben – von Balkonkonzerten, Videotelefonaten bis hin zu Angehörigenbesuchen im Garten -, damit die alten Menschen nicht vereinsamten.

"Größere Sorgen habe ich mir um die alten und kranken Menschen gemacht, die alleine leben und unsere ambulanten Pflege- und Hospizdienste aus Angst vor Ansteckung nicht ins Haus lassen wollten." Die Pandemie habe ihre Einsamkeit noch verschärft. Ein Thema, um das sich Kirche und Diakonie nach Ansicht von Martin Hamburger und Katharina Ruth stärker kümmern sollten.

Hände halten bei einem sterbenden alten Menschen (Foto: Pixabay)

Zu viele alte Menschen sterben alleine, meint Katharina Ruth. Ihr Hospizdienst beteiligt sich an einem palliativen Quartiersprojekt der Diakonie Wuppertal.

Paradigmenwechsel in der Hospizarbeit

"Es gibt zu viele Menschen, die im Alter ganz alleine sind und letztlich auch einsam sterben", beobachtet Ruth. "Wir brauchen deshalb einen Paradigmenwechsel in der Hospizarbeit." Bislang sei es eher die bürgerliche Mittel- und Oberschicht, die sich mit dem Wunsch an Begleitung an die Hospizdienste wende. "Wenn wir alle erreichen wollen, müssen wir andere Sorgestrukturen herstellen und Nachbarschaften einbinden."

In Wuppertal arbeitet die Diakonie daher gerade gemeinsam mit dem Hospizdienst "Die Pusteblume" an einem Konzept für ein neues, palliatives Quartiersprojekt. "Ich verstehe unsere Aufgabe als Diakonie darin, Menschen zusammenzubringen", sagt Martin Hamburger. "Nachbarschaften zu fördern, die sich im Alltag gegenseitig unterstützen, aber auch füreinander da sind, wenn es um Krankheit und Tod geht." Denn, so ergänzt er, Seelsorge – ob im Alltag oder im Sterben – sei für ihn letztlich "Anti-Einsamkeitssorge".

Text: Sabine Damaschke, Fotos: pixabay.de

Weitere Informationen

Unter dem Titel "Gesundheitsschutz versus Selbstbestimmung und Teilhabe in Einrichtungen für Langzeitpflege und Wohnen für ältere und Menschen mit Behinderung" veranstaltet die Diakonie RWL am 19. August von 15:00 bis 16:30 Uhr online eine Podiumsdiskussion mit Live-Chat, an der unter anderem Professorin Sigrid Graumann, Mitglied des Deutschen Ethikrates, und Diakonie RWL-Vorstand Christian Heine-Göttelmann teilnehmen.  Mehr dazu hier.