Pflegestärkungsgesetz II
Sebastian Wirth ist Vorsitzender des Evangelischen Fachverbands Ambulante Pflege in NRW der Diakonie Rheinland-Westfalen-Lippe
Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe hat versprochen, dass durch die Pflegereform niemand schlechter gestellt wird - wird das so sein?
Das stimmt nur zum Teil. Richtig ist, dass alle, bei denen bis zum 31. Dezember ein Pflegebedarf anerkannt wurde, zum Teil deutlich höhere Leistungen erhalten werden. Das passiert schon dadurch, dass sie nach einem Automatismus in höhere Pflegegrade übergeleitet werden. Menschen, die nach dem 1. Januar 2017 erstmals eingestuft werden, werden demgegenüber nach unseren Erwartungen im Vergleich zum Teil weniger erhalten.
Was ist der Grund?
Die Politik will, dass der Fokus bei Neueinstufungen ab 2017 stärker auf die Alltagskompetenz gerichtet wird. Wie das in der Praxis aussieht, müssen wir abwarten. Das Einstufungsverfahren wird zurzeit ja noch getestet. Menschen mit Demenz werden mit Sicherheit deutlich höhere Leistungen als bislang erhalten, da das bisherige System zu stark auf körperliche Beeinträchtigungen fixiert war. Andere, die erstmals eingestuft werden, könnten dagegen im Vergleich zu heute geringere Leistungen bekommen. Das gilt in besonderer Weise für Menschen, die starke körperliche Einschränkungen haben, geistig aber nicht eingeschränkt sind.
Sollten Menschen, bei denen ein Pflegebedarf vorliegen könnte, also darauf achten, möglichst noch in diesem Jahr eine Begutachtung durchführen zu lassen?
Pflege ist ja in der Regel kein plötzliches Ereignis. In den meisten Fällen rutschen Menschen allmählich in die Pflegebedürftigkeit, das ist ein laufender Prozess. Irgendwann stellt man einen Antrag auf Pflege mit der Auswirkung, dass Pflegegeld ausgezahlt wird. Ich rate allen, bei denen jetzt schon ein Pflegebedarf oder eine eingeschränkte Alltagskompetenz vorliegen könnte, sich unbedingt noch in diesem Jahr einstufen zu lassen. Ein Antrag ist einfach und formlos bei der Pflegeversicherung zu stellen.
Wie wird sich die Pflegereform auf den Pflegemarkt auswirken?
Seit 1995 gibt es die Pflegeversicherung. Die Budgets sind über viele Jahre nicht an die gestiegenen Lohnkosten angepasst worden. Hinzu kommen neue Kosten, zum Beispiel für die Ausbildungsumlage. Die Folge sind Arbeitsverdichtung für die Mitarbeitenden in der Pflege und reduzierte Leistungen für Menschen mit Pflegebedarf. An der Unterfinanzierung der ambulanten Pflege wird durch diese Pflegereform nichts geändert.
Verhinderungspflege, Kurzzeitpflege und Tagespflege sollen pflegende Angehörige entlasten. Sie werden bislang aber oft nicht oder nicht vollständig genutzt. Warum nicht?
Pflegende Angehörige können sich ohne Einbußen im Pflegegeld bis zu sechs Wochen im Jahr durch einen ambulanten Pflegedienst entlasten lassen, Kurzzeitpflege kann bis zu acht Wochen in Anspruch genommen werden. Aber jetzt, am Anfang des Jahres, werden diese Angebote kaum nachgefragt. Viele Betroffene wollen sich die Möglichkeit, Kurzzeit- oder Verhinderungspflege ohne Einbußen in Anspruch zu nehmen, aufsparen. Gegen Ende des Jahres stehen dann häufig mehr Mittel zur Verfügung, die dann nicht mehr benötigt werden.
Was raten Sie den Betroffenen?
Ich rate dazu, die Verhinderungspflege dann zu nutzen, wenn der Bedarf da ist. Ich beobachte dabei aber ein kulturelles Problem. Im stationären Bereich ist es weithin akzeptiert, dass die Pflegeversicherung nur einen Teil der Kosten deckt und eine oft sehr hohe Zuzahlung erforderlich ist. Die Leistungen der Pflegeversicherung werden hier als Zuschuss angesehen. Im ambulanten Bereich gibt es die Erwartung, dass über das Budget alle Kosten abgedeckt werden. Eine Zuzahlung wird in der Regel nicht akzeptiert.
Ein Perspektivwechsel wäre, vom Bedarf auszugehen und dann Unterstützungsmöglichkeiten zu definieren, statt vom Budget her zu denken. Wie gestalten wir die Woche von dem Angehörigen, wie kann der Rest organisiert und finanziert werden. Hier ist manchmal auch bei Pflegebedürftigen und Angehörigen ein Bewusstseinswandel erforderlich. Außerdem sollten Angehörige stärker darauf achten, dass die zur Verfügung stehenden Budgets auch genutzt werden und dass sie sich dazu beraten lassen.
Gibt es weitere Hindernisse für eine optimale Versorgung zu Hause?
Ein weiteres Problem ist das Pflegegeld - auch wenn das politisch jetzt nicht gern gehört wird. Bei vorliegender Pflegebedürftigkeit wird Pflegegeld ausgezahlt, wenn keine Pflegesachleistungen von einem Pflegedienst abgerufen werden. Der Anteil an Pflegegeld sinkt, je mehr für den Pflegedienst ausgegeben wird - bis hin zur Budgetgrenze.
Das Pflegegeld ist laut Gesetz dafür vorgesehen, um selbstbeschaffte Hilfen zu finanzieren. Als Beispiel wird immer gern das Benzingeld für die unterstützende Tochter genannt. Das Pflegegeld wird jedoch inzwischen immer mehr als Haushaltseinkommen angesehen, das möglichst gerettet werden soll. Dies kann dann zu einer Unterversorgung führen, da dringend benötigte Leistungen nicht abgerufen werden.
Angehörige klagen, dass die Leistungen aus der Pflegeversicherung zu intransparent sind.
Das stimmt. Hohe Barrieren liegen schon in der komplizierten Beantragung. Die Kassen gehen damit auch unterschiedlich um. Bei einigen Kassen reicht ein Anruf, andere schicken komplizierte Formulare. Und die Verrechnungsmöglichkeiten sind zu kompliziert. Verhinderungspflege lässt sich komplett für Kurzzeitpflege umwidmen, andersrum die Leistungen für Kurzzeitpflege aber nur zur Hälfte. Verhinderungspflege und Kurzzeitpflege verfallen zum Jahresende, Budgets für Entlastungsleistungen können über den Jahreswechsel mitgenommen werden. Das ist zu kompliziert. Viele Ansprüche verfallen und gehen zurück in die Rücklagen der Pflegekassen.
Was wäre einfacher?
Sinnvoll wäre aus meiner Sicht ein Zusatzbudget für alle Leistungen, die nach Zeit abgerechnet werden. Sie ergänzen die sogenannten "Sachleistungen" in der Pflege, wo der tatsächliche Zeitaufwand nicht berücksichtigt wird, sondern die Leistung - zum Beispiel die Ganzkörperwäsche.
Das Gespräch führte Christian Carls.
Teaserfoto: Wikimedia/Gerd Altmann