Sexualisierte Gewalt
In jeder Schulklasse sitzen – statistisch gesehen – zwei Schüler*innen, die sexualisierte Gewalt erfahren haben oder erfahren. Eine Statistik, die erschreckend deutlich macht, wie weit verbreitet diese Form von Gewalt ist. Auch deshalb sollen alle Mitarbeitenden der Diakonie besonders für dieses Thema sensibilisiert werden.
In entsprechenden Seminaren bilden Katharina Degen und Saskia Koll Multiplikator*innen aus, die sich gezielt mit dem Thema auseinandersetzen und ihr Wissen dann weitertragen. Die Schulungen sind Grundlage dafür, eine Kultur der Achtsamkeit zu schaffen. Dazu gehört zum einen die Frage nach einem richtigen Umgang mit sexualisierter Gewalt. Vor allem geht es jedoch darum, wie Einrichtungen ein Umfeld schaffen können, um sexualisierter Gewalt keinen Raum zu bieten.
Saskia Koll (li.) und Katharina Degen arbeiten in der Fachstelle für den Umgang mit Verletzungen der sexuellen Selbstbestimmung bei der Diakonie RWL.
Aufklären und sensibilisieren
Katharina Degen und Saskia Koll arbeiten in der Fachstelle für den Umgang mit Verletzungen der sexuellen Selbstbestimmung (FUVSS) des Diakonischen Werks Rheinland-Westfalen-Lippe (Diakonie RWL). Dort begleiten sie Betroffene sexualisierter Gewalt, die einen Antrag auf finanzielle Leistungen in Anerkennung des erlittenen Leids stellen.
Seit August dieses Jahres bieten sie zudem Multiplikator*innenschulungen an. Dort befähigen sie Menschen aus verschiedenen Arbeitsbereichen der diakonischen Mitgliedseinrichtungen, ihre Kolleg*innen weiterzubilden. Grundlage dafür ist das Kirchengesetz, das alle Einrichtungen und Dienste der Diakonie RWL und der evangelischen Kirchen in Lippe, Westfalen und dem Rheinland verpflichtet, Schutzkonzepte zu entwickeln, die Menschen aufzuklären und zu sensibilisieren.
Während der Schulung teilen und besprechen die Teilnehmenden ihre Ideen und Gedanken.
Methoden zur Vermittlung
Die Teilnehmenden haben im Vorfeld in ganz unterschiedlichem Maße Berührungspunkte mit dem Thema. "Manche Einrichtungen sind schon sehr gut aufgestellt, in anderen Bereichen ist das Thema noch weniger präsent. Das Ziel unserer Schulungen ist, dass sich Mitarbeitende von Kirche und Diakonie mit dem Thema auseinandersetzen, sich der Bedeutung bewusst werden und einen achtsamen Blick auf ihr Umfeld entwickeln", sagt Katharina Degen.
Zum Inhalt der Schulung gehört zunächst eine Klärung, welches Verhalten der Begriff sexualisierte Gewalt beschreibt. Auch um rechtliche Rahmenbedingungen, Handlungsstrategien von Täter*innen, eine etablierte Achtsamkeitskultur und Interventionsmöglichkeiten geht es in der Fortbildung. Doch dabei sind nicht nur die Inhalte selbst Thema, sondern vor allem die Frage, wie die Teilnehmenden diese im Anschluss weitergeben können. Und welche Methoden und Übungen dabei helfen.
Saskia Koll stellt den angehenden Multiplikator*innen Methoden vor, die diese dann selbst in ihren zukünftigen Schulungen anwenden können.
Praktische Übungen
Einige Übungen werden mit den Teilnehmenden in der Praxis ausprobiert. So erhalten die angehenden Multiplikator*innen die Möglichkeit, Methoden kennenzulernen, die sie dann selbst in ihren zukünftigen Schulungen anwenden können.
Bei der Übung "Strategiesammlung" geht es beispielsweise um die Frage, welche individuellen Unterstützungsmöglichkeiten es für Mitarbeitende geben kann, wenn sie von einem Vorfall sexualisierter Gewalt erfahren. Dazu tauschen sich die Teilnehmenden in Kleingruppen darüber aus, welche Strategien für sie hilfreich sein können, um sich selbst zu entlasten. Im Anschluss an den Austausch werden die Ideen und Gedanken mit den anderen Teilnehmenden geteilt und besprochen.
Während der Schulung bekommen die Teilnehmenden eine Idee davon, wie sie das Thema in ihren Einrichtungen angehen können.
Im Arbeitsalltag
Bärbel Gampf, Fachbereichsleitung der Evangelischen Pflegedienste Mark-Ruhr und des Qualitätsmanagements, ist mit drei Mitarbeitenden dabei. "Durch die Schulung haben wir eine Idee davon gewonnen, wie wir das Thema in den Einrichtungen angehen können", sagt sie. Im Pflegebereich sei das Thema sexualisierte Gewalt durchaus präsent – doch der Umgang damit nicht immer klar.
"Es gibt viele Situationen, in denen wir Klient*innen oder Patient*innen sehr nah kommen. Etwa, wenn wir sie waschen", sagt Roland ter Smitten, Mitarbeiter von Bärbel Gampf. Zudem seien die Betreuten gewissermaßen abhängig von ihren Pflegenden. Viele könnten sich nicht wehren. "Oder sie wissen nicht: Was passiert in Zukunft, wenn ich mich einmal wehre – wird es dann schlimmer?", ergänzt sein Kollege Stefan Stubner. Noch ernster sei das Thema bei der ambulanten Pflege - Pflegende seien hier regelmäßig mit den Klient*innen allein in deren Wohnung. Die Gefahr, ertappt zu werden, sei hier eher gering.
Doch nicht nur zum Schutz derer, die versorgt werden, sei ein sensibler Umgang mit dem Thema sexualisierte Gewalt wichtig. Auch Pflegekräfte seien häufig Übergriffen ausgesetzt. Dass Demenzkranke, aber auch andere Patient*innen oder Klient*innen sie ungefragt am Po berührten etwa. "Das haben wir alle schon erlebt", sagt Bärbel Gampf. Manchmal komme es auch vor, dass bekannt sei, wer in einer Einrichtung Pflegekräfte sexuell belästige – das aber mit Schulterzucken hingenommen werde, als gehöre das eben zum Berufsbild.
"Da ist es wichtig, dass wir ein Bewusstsein dafür schaffen, dass das eben nicht geduldet wird. Vor allem auch den jungen Auszubildenden gegenüber", sagt Bärbel Gampf. Es solle von Anfang an vermittelt werden, dass sie das eben nicht aushalten müssen – und dass sie ein offenes Ohr finden, wenn ihnen etwas passiere, das sie nicht möchten.
Saskia Koll (li.) und Katharina Degen moderieren die Seminare. Sie sagen: "Um Taten verhindern zu können, bedarf es eines achtsamen und aufmerksamen Miteinanders."
Taten verhindern
Aber nicht nur der Umgang mit bereits geschehenen Vorfällen ist Teil der Schulungen. Saskia Koll und Katharina Degen wollen früher ansetzen und sagen: Um Taten verhindern zu können, bedarf es eines achtsamen und aufmerksamen Miteinanders. Je mehr Menschen für das Thema sensibilisiert sind, desto kleiner werden Handlungsspielräume für Täter*innen.
Ein extremes Gegenbeispiel: In ihrer Arbeit mit Betroffenen haben die beiden Frauen viel mit Menschen zu tun, die in den 1960er Jahren in Kinderheimen gelebt haben und dort vielfach der Gewalt durch Betreuende ausgesetzt waren. Katharina Degen sagt dazu: "Die Strukturen damals haben den verschiedenen Formen von Gewalt Tür und Tor geöffnet. Es wurde weder hingesehen noch interveniert. Betroffenen wurde nicht geglaubt, und zum Teil wurden sie noch bestraft, wenn sie sich jemandem anvertrauten."
Literatur zum Umgang mit dem Thema sexualisierter Gewalt.
Präsenz zeigen
Eine Achtsamkeitskultur bedeutet das Gegenteil. Schon durch die Schulung aller Mitarbeitenden in den Organisationen, aber auch durch das Benennen konkreter Ansprechpersonen zeige man, dass das Thema sehr präsent sei. Je schwerer es für Täter*innen werde, Taten umzusetzen, und je mehr sie Konsequenzen zu befürchten hätten, desto kleiner würden ihre Handlungsspielräume, so Koll und Degen.
Außerdem mache man auf diese Weise deutlich, dass man es nicht für ausgeschlossen halte, dass sexualisierte Gewalt in den eigenen Reihen passiere. "Für alle ist es schwer vorstellbar, dass eine bekannte Person Täter oder Täterin sein soll. Wir trauen es den Menschen in unserem Umfeld einfach nicht zu, können uns nicht vorstellen, dass uns das Thema so nah kommt", sagt Katharina Degen. Aber: Es passiert. Jederzeit und überall.
Text: Carolin Scholz; Fotos: Bretz, Andreas Endermann, Collage: Ann-Kristin Herbst
Aktiv gegen sexualisierte Gewalt
Die Fachstelle für den Umgang mit Verletzungen der sexuellen Selbstbestimmung (FUVSS)
Das Arbeitsfeld der FUVSS umfasst drei Bereiche des Themas sexualisierte Gewalt:
Meldestelle Begleitung und Beratung von Mitgliedseinrichtungen bei Fällen von Verletzungen der sexuellen Selbstbestimmung sowie Begleitung und Einleitung von Interventionsverfahren
Prävention Schulung von Mitarbeitenden der Mitgliedseinrichtungen im Bereich Prävention sexualisierte Gewalt
Geschäftsführung der Unabhängigen Kommission und der Beschwerdekommission Begleitung von Betroffenen sexualisierter Gewalt im Verfahren der Beantragung finanzieller Leistungen in Anerkennung des erlittenen Leids