Landtagswahl NRW 2022: Armut und Arbeitsmarktpolitik

Langsam erholt sich der Arbeitsmarkt von den Folgen der Corona-Pandemie: Dennoch haben die vergangenen zwei Jahre deutliche Spuren im Leben von Menschen hinterlassen, die arbeitslos oder aus anderen Gründen von Armut betroffen sind. Menschen drohen durch Überschuldung in Armut zu geraten. Und auch die Situation auf dem Ausbildungsmarkt gestaltet sich insbesondere für sozial benachteiligte Jugendliche und junge Erwachsene schwierig. Zwar ist die Arbeitslosenquote in NRW in den vergangenen Monaten insgesamt leicht gesunken. Die Zahl der Langzeitarbeitslosen hingegen ist deutlich gestiegen: Im Vergleich zur Situation vor der Corona Pandemie im Februar 2020 gab es hier eine Steigerung von 27,2 Prozent (Quelle: Bundesagentur für Arbeit).

Deshalb muss es in der kommenden Legislaturperiode vor allem darum gehen, wie die Sozial- und Arbeitsmarktpolitik so gestaltet werden kann, dass von Armut betroffene und langzeitarbeitslose Menschen genauso wie geringer qualifizierte und sozial benachteiligte Heranwachsende nicht die Verlierer der Pandemie bleiben. Und ob und wie ihnen gesellschaftliche Teilhabe ermöglicht werden kann.

1) Der soziale Arbeitsmarkt in NRW muss ausgebaut werden!

Der Garant für ein gutes Leben und der beste Schutz vor Armut im Alter ist eine gute Beschäftigung. Öffentlich geförderte Beschäftigung hat sich als ein probates Instrument zur Bekämpfung insbesondere der verfestigten Langzeitarbeitslosigkeit bewährt. Am Arbeitsmarkt benachteiligte Personen können so persönliche Stabilisierung, berufliche Qualifizierung und soziale Teilhabe erfahren.

Wir setzen uns für die vielen Menschen in NRW ein, die schon längere Zeit keiner geregelten Arbeit nachgehen, und fordern, dass die öffentlich geförderte Beschäftigung quantitativ und qualitativ ausgebaut wird. Mit Modellprojekten können Beschäftigungs- und Förderansätze für besonders arbeitsmarktferne Menschen weiterentwickelt werden, die derzeit keinen Zugang zur öffentlich geförderten Beschäftigung haben. Auch Anschlussinstrumente können so erprobt werden, damit Menschen nach Auslaufen einer Förderung nach § 16 i SGB II nicht abermals in die Arbeitslosigkeit fallen. Neue Geschäftsmodelle sozialer, gemeinnütziger Betriebe können einen Beitrag zum sozial-ökologischen Transformationsprozess und seiner gesellschaftlichen Akzeptanz leisten. Neue Lösungen können dann über den Bundesrat bundespolitisch implementiert werden.

2) Der gesetzliche Mindestlohn muss weiter angehoben werden!

Die geplante Erhöhung des Mindestlohns wird eine direkte Auswirkung auf Arbeitnehmer*innen haben. Allein in NRW werden fast 1,6 Millionen Menschen davon profitieren. Das bedeutet, dass 92 Prozent der Beschäftigten im Niedriglohnsektor ab Oktober mehr Geld zur Verfügung haben werden. Damit erhalten Vollzeitbeschäftigte ein existenzsicherndes Einkommen statt öffentlicher Mittel zur Aufstockung.

Gerade weil immer mehr Arbeitgeber*innen aus Tarifbindungen aussteigen, ist ein gesetzlicher Mindestlohn ein wirksamer Schutz der Arbeitnehmer*innen vor Verarmung trotz Vollzeitbeschäftigung. Der Niedriglohnsektor wird an Bedeutung verlieren, die Einkommensverteilung wird gerechter und von der erhöhten Kaufkraft profitiert auch die Binnenwirtschaft. Weiterhin führt ein höherer Mindestlohn zu Mehreinnahmen der Sozialversicherungen und verringert das Risiko der Altersarmut. Vor allem aber verbessert der Mindestlohn die Möglichkeiten der kulturellen und gesellschaftlichen Teilhabe.

3) Sozial benachteiligte Jugendliche in NRW müssen intensiv und individuell unterstützt werden, um ihre Chancen auf einen Schulabschluss und einen Ausbildungsplatz zu erhöhen!

Wir wollen die Ausbildungschancen für benachteiligte Jugendliche sichern. Das ist nicht nur in Zeiten knapper werdender Fachkräfte von enormer Bedeutung, sondern es ist wichtig, junge Menschen, deren Start ins Erwachsenenleben sich als herausfordernd darstellt, bestmöglich zu unterstützen

Insbesondere für Jugendliche mit niedrigem oder fehlendem Schulabschluss oder besonderen persönlichen Problemlagen sowie für junge Menschen mit Migrationshintergrund und Fluchterfahrung gestaltet sich der Übergang in eine Ausbildung besonders schwierig. Auch nach einem Schulabbruch verlieren viele Jugendliche eine institutionelle Anbindung, die ihnen Unterstützung bieten und Optionen aufzeigen könnte. Bisher gibt es nur wenig politische Ansätze dazu, wie man diese Jugendlichen wieder erreichen kann.

Deshalb fordern wir, die standardisierten Angebote der Berufsorientierung für benachteiligte Jugendliche quantitativ und qualitativ zu ergänzen. Besondere Probleme beim Übergang von Schule zu Beruf bedürfen einer besonderen, individuellen Unterstützung, die auf einem persönlichen Zugang und Vertrauen beruht. Außerdem bieten sozialpädagogisch begleitete, außerbetriebliche Ausbildungen einen gewissen Schutzraum für Entwicklungsprozesse. Daher sollte diese Form der Berufsausbildung (in kooperativer Form) als Brücke von einer trägergestützten Ausbildung in das reguläre duale Ausbildungssystem bedarfsorientiert ausgebaut werden. Die Finanzierung sollte so gestaltet sein, dass im Rahmen der Vergabe von öffentlichen Aufträgen auch Träger, die einen am öffentlichen Dienst orientierten Tariflohn zahlen, diese Ausbildungen anbieten können.

4) Jede*r in NRW muss einen kostenfreien Zugang zu einer wohnortnahen Schuldner- und Insolvenzberatung haben!

Eine niedrigschwellig erreichbare, frühe und kostenfreie Schuldnerberatung kann präventiv wirken, bevor die betroffenen Menschen tiefer in Schulden und Armut fallen. Schuldnerberatung hat sich in den zurückliegenden Jahrzehnten zu einem unverzichtbaren Baustein in der Bekämpfung von Armut und bei Hilfen für Familien entwickelt. Die Verlässlichkeit dieses Angebots wurde insbesondere in der Pandemie deutlich. Trotzdem ist dieses Beratungsangebot nach Ansicht der Diakonie RWL unzureichend finanziert. Auch für präventive Arbeit gibt es nicht genügend finanzielle Ressourcen. Eine gute frühzeitige Beratung kostet das Gemeinwesen weniger Geld als spätere Sozialleistungstransfers.

Wir fordern, die Schuldner- und Verbraucherinsolvenzberatung finanziell stärker zu unterstützen, sodass jede*r Bürger*in in NRW zügig und wohnortnah eine kostenfreie Beratung aufsuchen kann. In NRW werden wir uns dafür einsetzen und auf Bundesebene weiterhin einen Rechtsanspruch auf Schuldnerberatung fordern.

5) Die Armutsprävention in NRW muss gestärkt werden!

Einer weiteren Verfestigung von Armut – insbesondere in den strukturschwachen Städten des Ruhrgebiets – muss wirksam entgegen gearbeitet werden. Arbeit, Wohnen, Bildung und digitale Teilhabe sind grundlegende Pfeiler eines guten Lebens und müssen ebenso wie Mobilität und erforderliche Maßnahmen zum Klimaschutz für jeden finanzierbar sein. Kinder leiden besonders unter Armut und tragen die Folgen von Armut häufig ihr Leben lang mit. Daher setzen wir uns besonders für den Ausbau der präventiven Angebote in den Kommunen unter Mitwirkung der Freien Wohlfahrtspflege ein. Wir fordern die nächste Landesregierung auf, eine umfassende, ressortübergreifende Strategie zur Bekämpfung von Armut zu entwickeln.

In NRW gibt es mit der Sozialberichterstattung ein etabliertes Instrument, um Armut zu erfassen. Zu wenig werden die Erkenntnisse dieser Berichterstattung in nachhaltig wirkende Strukturen zur Armutsbekämpfung und Armutsprävention umgesetzt. Der Zusammenhang von Armut einerseits und geringerem Bildungsstandard, Migrationshintergrund und dem Status Alleinerziehend sein andererseits ist durch viele Studien belegt. Gemäß §§ 2, 38 Abs. 4 GGO NRW sind alle Gesetzesvorschläge hinsichtlich ihrer Nachhaltigkeit zu überprüfen. Diese Prüfung ist im Rahmen der geltenden Gesetze auf die soziale Ungleichheit – und somit die soziale Nachhaltigkeit – von Gesetzesvorhaben erweiterbar.

6) Wir fordern ein Resozialisierungsgesetz für NRW - denn Ziel des Strafvollzugs ist die Resozialisierung!

Resozialisierung beginnt mit dem Zeitpunkt der Inhaftierung und dauert auch nach der Haftentlassung an. Aus Sicht der Diakonie muss Resozialisierung stärker als bislang als gesamtgesellschaftliche Aufgabe wahrgenommen und unterstützt werden. Damit Menschen nach der Haftentlassung teilhaben können, benötigen sie Wohnraum, Arbeit und ein stabiles soziales Umfeld. Strafgefangene müssen auf digitale Anforderungen in Bildung, Beruf und Gesellschaft vorbereitet werden, auch damit sie wichtige Angelegenheiten im Rahmen der Entlassung selbstverantwortet organisieren können.

Die Einrichtungen der Freien Straffälligenhilfe leisten einen wichtigen Beitrag zur Prävention und zur Haftvermeidung, sie betreuen während der Haft und sie begleiten während und nach der Haftentlassung. Davon profitieren alle: Bedienstete in den Justizvollzugsanstalten werden entlastet, Haftkosten werden gesenkt und Rückfallquoten werden gemindert. Arbeit statt Strafe, der Täter-Opfer-Ausgleich sowie angepasste psychosoziale Hilfen sind Beispiele für Maßnahmen, um die Teilhabe an der Gesellschaft in Straffreiheit zu fördern.

Die im Strafvollzugsgesetz normierte Einbindung von freien Trägern muss stärker in den Blick genommen und in finanzieller Hinsicht dauerhaft verlässlich abgesichert werden, denn die Freie Straffälligenhilfe ist bei der Erfüllung dieser Aufgaben eine wichtige Säule neben Strafvollzug und ambulantem Dienst der Justiz. Ein neu zu schaffendes Resozialisierungsgesetz soll diesen Perspektivwechsel einleiten.

7) Bahnhofsmissionen als Seismograf gesellschaftlicher Entwicklungen begreifen und finanziell stärken!

Die Bahnhofsmissionen bilden die gesamte Palette der Sozialen Arbeit ab. Sie fungieren gleichsam als Seismograf für gesellschaftliche Entwicklungen. Auf der Basis von Personalität, Solidarität und Subsidiarität begleiten sie Menschen, die der Unterstützung bedürfen: In den Zügen, in Not Geratene, die sich in den Bahnhöfen aufhalten, obdachlose Menschen oder Menschen in akuten Notsituationen. Diese wichtige Arbeit muss künftig mit einer angemessenen Landesförderung unterstützt werden.

Denn die Bahnhofsmissionen erhalten wegen ihres Alleinstellungsmerkmals, für alle Zielgruppen ansprechbar zu sein, und weil sie ohne gesetzlichen Auftrag arbeiten, bisher leider keine Förderung. Sie speisen ihre Arbeit aus kircheneigenen Mitteln (Kollekten) und aus Spenden. In einigen Kommunen erhalten die dortigen Bahnhofsmissionen überschaubare kommunale Zuschüsse. Damit ist die Finanzierung dieser wichtigen Arbeit oft unsicher. Die Mitarbeitenden in den Bahnhofsmissionen tragen zur sozialen Mobilität bei, leisten Ein-, Aus- und Umsteigehilfe für Menschen mit Behinderungen, Senioren oder Familien mit Kindern. Aufsuchende Arbeit im Bahnhof hilft, Not wahrzunehmen und Menschen in Schwierigkeiten zu unterstützen. Gerade in Pandemiezeiten haben Bahnhofsmissionen existentielle Hilfen angeboten und waren da, um Menschen zu stärken, um sie in ihrer Einsamkeit zu trösten und um sie weiterzuvermitteln. Die Bahnhofsmissionen bieten Gespräche und seelsorgliche Begleitung an, sie vermitteln in das soziale Netz und sind da, wenn Menschen durch die Hilfesysteme hindurchfallen. Sie leiten schnelle und unbürokratische Hilfen in Katastrophenfällen und Krisensituationen ein, wie z.B. bei der Loveparade in Duisburg und bei Unwettern. Sie helfen Geflüchteten, Arbeitsmigrant*innen, desorientierten Menschen und Menschen, die aus anderen Gründen einer Begleitung bedürfen.

Die bisherigen Mittel (zum größten Teil sind es Eigenmittel) reichen nicht mehr aus, weil die Hilfsbedürftigkeit wächst und sich immer mehr differenziert. Die demografische Entwicklung, die Zunahme an psychisch erkrankten Menschen, die Zunahme an Armut, die großen Herausforderungen in den Zeiten der Pandemie, die zahlreichen, oft sehr komplexen Hilfeanfragen unterstreichen die Notwendigkeit von Hauptamtlichkeit. Personalkostenzuschüsse werden daher immer dringender, um die wichtige Brückenfunktion der Bahnhofsmission in das soziale Netz zu stabilisieren.

 
 

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