4. Oktober 2019

125 Jahre Bahnhofsmission

Die Solidarität der Frauen

Vor 125 Jahren zogen junge Frauen vom Land in die Großstädte, um Arbeit zu finden. Sie drohten an den Bahnhöfen "unter die Räder" zu kommen. Gewalt, Ausbeutung und Unterdrückung waren für viele die ersten Erfahrungen. Frauen aus der Umgebung taten sich angesichts der Not mit den Kirchen zusammen, um zu helfen und zu beschützen. Das war der Anfang der Bahnhofsmission. Bis heute wird diese Solidarität unter Frauen gefördert. Wie in Aachen, dort treffen sich Frauen einmal im Monat beim Frauentag.

  • Ausgelassenheit: Kornelia, Stephanie und Monika kommen regelmäßig zum Frauentag.
  • "Männer haben keinen Zutritt": Für den Frauentag befestigt Elke Schreiber das Poster.
  • Züge gucken. Vom Aufenthaltsraum kann man den Bahnen hinterher schauen.
  • Letzte Vorbereitungen: Marlies (links) und Johanna setzen Teewasser auf und gießen die Blumen.
  • Es ist angerichtet: Gürkchen mit Dip und Tomate-Mozzarella.
  • Hilfe am Gleis 1: Die Bahnhofsmission Aachen.
  • Ins Gespräch vertieft: Ursel und Nicole haben eine gute Zeit.
  • Der Tisch ist liebevoll und farbenfroh gedeckt.

Er ist nicht zu übersehen. Und auch nicht zu überhören. Der Mann Mitte 50 in schwarzer Jogginghose hat sich mit seinem Rollstuhl direkt vor den Haupteingang des Aachener Hauptbahnhofs gestellt. Einen leeren Kaffeebecher vor sich auf dem Boden. "Haben Sie mal ein paar Münzen für mich?", ruft er einer Passantin hinterher, die schon im Gebäude verschwindet und sich nicht mehr nach ihm umdreht. Der Mann scheint sich nichts draus zu machen und spricht den nächsten Reisenden an.

Elke Schreiber ist seit 15 Jahren bei der Bahnhofsmission Aachen.

Elke Schreiber ist seit 15 Jahren bei der Bahnhofsmission Aachen. 

Frauen leiden im Geheimen

Es gibt Armut, die ist sichtbar und präsent. Elke Schreiber von der Aachener Bahnhofsmission nennt sie die eher männliche Armut. Daneben gibt es aber auch die unscheinbarere, verstecktere Armut - die Armut mancher Frauen. "Frauen werden meist nicht laut, wenn sie Hilfe brauchen", erklärt die Sozialarbeiterin. Stattdessen versuchen sie, den Schein zu wahren, sich nichts anmerken zu lassen. Sie machen sich schick, sind nach außen fröhlich und leiden häufig im Geheimen – obwohl sie viel stärker armutsgefährdet sind als Männer. Rund 20 Prozent aller Frauen waren 2017 von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht. Bei den Männern waren es 17,6 Prozent.

"Auch wenn sie dringend Hilfe brauchen, fallen Frauen nicht so auf und werden oft übersehen und übergangen – besonders auf belebten Plätzen wie hier am Bahnhof", berichtet die ausgebildete Sozialarbeiterin und Diakonin. Die 56 Jahre alte Elke Schreiber arbeitet seit 15 Jahren in der Bahnhofsmission Aachen und hat ein Auge entwickelt für alle, die Hilfe brauchen, die in Gefahr sind, nicht wahrgenommen zu werden. Die 17 Ehrenamtlichen und Leiterin Schreiber haben sich etwas Ungewöhnliches einfallen lassen, um auch die Frauen zu erreichen: ein Frühstück – und zwar nur für Frauen.

Ursel ist zuständig für die Deko beim Frauentag.

Ursel ist zuständig für die Deko beim Frauentag.

Männer müssen draußen bleiben

Einmal im Monat hängt an der Glastür der Bahnhofsmission Aachen ein handgemaltes Poster mit dem Hinweis "Männer haben keinen Zutritt" Dann dürfen nur Frauen in den gemütlichen Aufenthaltsraum der Bahnhofsmission – egal ob Ehrenamtliche oder Besucherin. Darüber wacht an diesem spätsommerlichen Mittwoch Johanna.

Bei der Bahnhofsmission Aachen spricht man sich mit dem Vornamen an – kombiniert mit der Sie-Form. "Das ist ein Zeichen des Respekts. Viele unserer Gäste sind es gar nicht mehr gewohnt, gesiezt zu werden", erklärt Marlies. "Wir möchten damit auch zeigen, dass wir ihre Privatsphäre respektieren."

Niemand der Gäste muss etwas über sich erzählen. "Bei einigen der Frauen, die regelmäßig kommen, kennen wir die Geschichte gar nicht", sagt Ursel, während sie einen Teller mit kleinen Frikadellen auf den Tisch stellt. Gemeinsam mit Marlies, Nicole, Johanna, Monika und Elke Schreiber bereitet sie das Frühstück vor. Viele der Frauen arbeiten seit Jahren ehrenamtlich bei der Bahnhofsmission. Sie sind ein gut eingespieltes Team. Dekorativ verteilen sie kleine Tomaten, Basilikumblätter und Mozzarella auf Tellern. Sie nehmen den Aufschnitt aus den Plastikverpackungen, schneiden Feigen und Bananen und richten alles auf Serviertellern an.

Sich austauschen: Kornelia, Stephanie und Monika genießen es, zu klönen.

Sich austauschen: Kornelia, Stephanie und Monika genießen es, zu klönen.

Klönen an der üppigen Tafel

Nach und nach verwandeln sich die etwas kahlen, zusammengeschobenen Holztische in eine üppige Tafel. Pünktlich um 12 Uhr klingelt es an der Tür, und die ersten Frauen kommen an. "Was für ein wunderschön gedeckter Tisch", sagt Kornelia, die in der Bahnhofsmission zu "Frau Conny" wird.

Sie kommt bereits seit mehreren Jahren regelmäßig und kennt alle Ehrenamtlichen und anderen Besucherinnen gut. Die Ehrenamtlichen versorgen die Frauen mit Tee und Kaffee. Die Gäste zu bedienen und ein wenig zu umsorgen, gehört auch zum Programm, denn der Frauentag soll etwas Besonderes sein. Nicole hat für die Gruppe einen spirituellen Impuls vorbereitet. Es geht um die Bergpredigt und ein Gedicht des Lyrikers Günter Eich. Ihre Botschaft: "Seid anders, passt euch nicht immer an. Das ist in Ordnung."

Die Frauen sind zwischen 30 und 65 Jahre alt, manche haben sich nett zurecht gemacht. Warum die Frauen zur Bahnhofsmission kommen? "Das ist ganz unterschiedlich", sagt Schreiber. "Einige haben ein regelmäßiges Einkommen und eine Wohnung, aber kaum Familienanschluss. Andere sind wohnungslos, haben viele Enttäuschungen hinter sich und erleben soziale Ausgrenzung. Viele unserer regelmäßigen Besucherinnen gehören zu den Ärmsten der Armen."

Beim Frauentag entsehen Freundschaften - nicht nur zwischen den Besucherinnen.

Beim Frauentag entsehen Freundschaften - nicht nur zwischen den Besucherinnen. 

Auch mal über Frauenthemen reden

Beim Frauentreff stehe das aber im Hintergrund. Es gehe darum, raus zu kommen und eine unbeschwerte Zeit mit anderen Frauen zu erleben. "Nimm dir doch noch ein Schokocroissant", sagt eine der Frauen zu einer Ehrenamtlichen. "Lieber nicht, ich muss ein bisschen auf meine Figur achten." "Ja, das kenne ich."

Offen reden, auch mal über Frauenthemen, das fällt vielen der Besucherinnen in einer rein weiblichen Runde leichter. Vor allem denen, die Gewalt durch Männer erfahren haben. "Die werden dann ganz still, wenn sie mit den Männern am Tisch sitzen", sagt Nicole. Regelmäßig verteilen die Ehrenamtlichen und Elke Schreiber Visitenkarten mit der Telefonnummer einer Sozialarbeiterin der Frauenberatungsstelle des Trägervereins "WABe – Diakonisches Netzwerk Aachen". "Haltet Ausschau nach Frauen, die vielleicht Hilfe brauchen und gebt ihnen die Karte", fordert Schreiber die Besucherinnen auf.

Erinnerungen an einen unbeschwerten Tag: Die Frauen schauen sich die Fotos ihres Ausflugs an.

Erinnerungen an einen unbeschwerten Tag: Die Frauen schauen sich die Fotos ihres Ausflugs an.

Unbeschwertheit für einen Tag

Nach dem Frühstück wirft Elke Schreiber den Projektor an. Auf die Wand vergrößert schauen sich die Frauen die Fotos ihres letzten Ausflugs an. Durch Spenden finanziert, konnten alle gemeinsam an den Rursee in der Eifel fahren. Bootstour, Pommes und Eis essen und die Sonne genießen – Unbeschwertheit für einen Tag.

Als es Zeit zum Gehen ist, streiten sich zwei Frauen um die übrig gebliebenen Brötchen. Elke Schreiber vermittelt und die beiden Besucherinnen sprechen sich aus. Am Ende umarmen sich beide. "Frauen haben ein anderes Sozialverhalten als Männer. Da wird sich zwar gefetzt, aber am Ende gibt es meist eine Umarmung", sagt Elke Schreiber. Es ist die Solidarität der Frauen.

Text und Fotos: Ann-Kristin Herbst

Ihr/e Ansprechpartner/in
Karen Sommer-Loeffen
Geschäftsfeld Krankenhaus und Gesundheit
Weitere Informationen

Bahnhofsmission Aachen
Die Bahnhofsmission Aachen wurde 1901 gegründet. Sie wird vom Verein "In Via Aachen" auf katholischer und von der "WABe – Diakonisches Netzwerk Aachen" auf evangelischer Seite getragen. Aktuell arbeiten 17 Ehrenamtliche in der Bahnhofsmission am Gleis 1. Im Durchschnitt besuchen jeden Tag rund 40 Menschen die soziale Hilfe am Bahnsteig. "Unsere Gäste gehören häufig zu den Ärmsten der Armen", sagt Elke Schreiber. Zwischen 12 und 16 Uhr können sich die Besucher im Aufenthaltsraum hinsetzen. Hilfe finden alle Menschen aber täglich von 9 bis 17 Uhr. Um die Öffnungszeiten aufrecht zu erhalten, sucht die Bahnhofsmission Aachen nach neuen Ehrenamtlichen. Interessierte können sich unter aachen@bahnhofsmission.de bei Elke Schreiber melden.